Handbuch Traumakompetenz - Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik

Handbuch Traumakompetenz - Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik

von: Lydia Hantke, Hans-Joachim Görges

Junfermann, 2012

ISBN: 9783873878846

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 2147 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Handbuch Traumakompetenz - Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik



2. Vom Herzschlag bis zum Sinn der Welt – unser Gehirn entwickelt sich so, wie wir es nutzen


Los geht es also mit der Theorie. Doch bevor wir uns den traumatheoretischen Ideen widmen, möchten wir Sie in den Bereich menschlicher Entwicklung einführen, ohne den die Traumatheorien nicht verständlich wären. Denn Traumatisierung heißt, dass etwas nicht verarbeitet wurde. Wir können besser verstehen, was eine neue Bearbeitung fördert, wenn wir wissen, was eigentlich hätte geschehen sollen.

Man kann die Entwicklung des Menschen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten: wie Beziehungen hergestellt werden, wie sich die Organe entwickeln oder der Hormonhaushalt, die Struktur der Haut oder die Wahrnehmung der Welt um uns; welche Art von Sprache in den unterschiedlichen Stadien eine Rolle spielt. An all diesen Prozessen ist unser Gehirn beteiligt. Wenn wir Menschen verstehen und im Umgang mit ihren Traumatisierungen helfen wollen, sollten wir also wissen, wie sich dieses Gebilde formt, was es braucht, um gut zu arbeiten, und was man tun kann, es dabei zu unterstützen. Damit wir wissen, warum wir tun, was wir tun. Und um mit jedem Gegenüber eine neue, passende Theorie über das zu entwickeln, was für ihn oder sie hilfreich sein kann.

Bis vor ein, zwei Jahrzehnten hätte es dieses Kapitel nicht gegeben, aber die Neurophysiologie als Disziplin hat durch immer weiter verfeinerte Forschungsmethoden eine rasante Entwicklung erfahren. Sie ist inzwischen aus keinem ernst zu nehmenden Buch über den Menschen mehr wegzudenken. Und das ist auch gut so, denn sie hält eine Menge spannender Ergebnisse bereit. Aber bei allem, was Sie auf den nächsten Seiten lesen, möchten wir Sie bitten, im Auge zu behalten, dass die Forschung weitergeht und die zukünftigen Erkenntnisse wohl noch spannender sein werden. Etliches wird nicht mehr stimmen, was heute noch nützlich ist.

Damit ist auch ein wesentlicher Vorgang beschrieben, der in jedem einzelnen Gehirn zeitlebens stattfindet: Wir bilden Theorien auf der Grundlage dessen, was wir momentan wissen. Und egal, ob etwas für uns als Theorie erkennbar ist oder wir es als selbstverständlich empfinden, wir basteln aus allem, was wir erfahren und gelernt haben, immer wieder einen neuen Blick auf die Welt. Was wir für richtig und falsch halten, welche Meinungen wir vertreten und wogegen wir ankämpfen, ist entscheidend davon abhängig, was uns widerfahren ist, was wir erlebt und gelernt haben. Manches verlernen wir wieder, manches scheint uns eingebrannt und unveränderbar. Und im Rückblick sehen wir deutlicher, wo eine Veränderung doch noch stattgefunden hat, weil die Umstände es erzwangen oder weil wir es so wollten.

In den letzten Jahren haben wir gelernt, das Gehirn als wesentliches Organ dieser Anpassung der Umwelt an uns und unserer Person an die Umwelt zu betrachten. Seine unterschiedlichen Bereiche und vielfältigen Funktionen des Speicherns und Neustrukturierens sind dafür verantwortlich, wie gut dieser Abgleich vonstattengeht. Lassen Sie uns also betrachten, was hier alles passiert, denn Traumatisierung – genauer gehen wir auf diesen Begriff erst in Kapitel I.4 ein – verändert diesen Strukturierungsprozess. Traumatisierung verhindert manche Entwicklungen und begünstigt andere; sie verändert das Gehirn und die Art, wie es arbeitet.

2.1 Die Funktionen der verschiedenen Teile des Gehirns


Wenn Sie versuchen, sich in der einschlägigen (populär)wissenschaftlichen Literatur oder im Internet einen Überblick über die Teile und Funktionen des Gehirns zu verschaffen, so werden Sie mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Definitionen konfrontiert. Das liegt daran, dass man natürlich auch die Substanzen des Gehirns unterschiedlich betrachten kann. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich die Forschungsmethoden und -Interessen verändert. Man unterscheidet als große Strukturen des Zentralen Nervensystems (ZNS) das Rückenmark, den Hirnstamm, das Kleinhirn und das Großhirn, wobei das Großhirn für die Traumatheorie sinnvollerweise in Großhirnrinde und limbisches System untergliedert wird.

Nun lassen Sie uns die Funktionen dieser Bereiche ihrer Lage nach von unten nach oben betrachten. Die weiter außen (und oben) liegenden Schichten sind sehr viel jünger, die innen liegenden (tieferen) sehr viel früher in der Geschichte der Arten entstanden.

Das Rückenmark ist für die Weiterleitung der Informationen aus dem Körper in die Schaltstellen der Gehirnregionen verantwortlich. Wird es in seiner Arbeit behindert, so kommt es zu Übertragungsfehlern oder auch Unterbrechungen, wie im Falle von Rückenmarksverletzungen. Aber auch bei einseitigen Belastungen und einer schlechten Muskelausprägung um die Rückenmarksnerven herum sind die Folgen schnell spürbar und äußern sich vor allem durch Schmerzen.

Abbildung 1: Aufbau des Gehirns

Der Hirnstamm reguliert die grundlegenden Funktionen unseres Körpers, ohne die kein Leben möglich ist: das Pumpen des Blutes durch unsere Adern, das Wachstums der Körperzellen, Atmung, Körpertemperatur, Stoffwechsel, Herzschlag. Diese Funktionen sind in ihrer Feinabstimmung nicht vorab festgelegt, sondern werden je nach Erfordernis der Umgebung angepasst. Die Art unseres Körperaufbaus legt einen Rahmen fest. Unser Herz z. B. darf nicht für längere Zeit aussetzen und sollte nicht schneller als 180-mal in der Minute schlagen – der Mittelwert eines gesunden Erwachsenen liegt bei 70, der eines Säuglings bei 120 Schlägen pro Minute. Innerhalb der Bandbreite der Funktionstüchtigkeit der Körperrhythmen stellt sich der Organismus auf die jeweiligen Gegebenheiten ein. Wenn ein Mensch in einer tropischen Umwelt aufwächst, muss sich sein Körper anders regulieren als der eines Inuit im nördlichen Polargebiet. Diese Bandbreite wird in der frühen Entwicklung des Körpers voreingestellt. Wenn die Mutter in der Schwangerschaft Angst hat, geschlagen wird oder nicht weiß, wie das Leben weitergehen soll, dann wird der Körper des Säuglings darauf reagieren und schon spannungsbereiter sein, wenn er auf die Welt kommt. Wenn die Mutter hingegen geschützt war und sich mit Ruhe, Freude und Gelassenheit auf das Kind vorbereiten konnte, wird es mit größerer Wahrscheinlichkeit ein ausgeglicheneres Baby sein.

Das Kleinhirn ist eine sehr raumgreifende Struktur in unserem Hinterkopf: Hier wird unsere Bewegung koordiniert – vom großen Zeh, den wir als Säugling noch so leicht in den Mund stecken können, bis zum Schuheschnüren oder Klavierspielen. Der Gleichgewichtssinn ist mit dem Kleinhirn eng verknüpft; Haltung, Bewegung und zielgerichtete Steuerung im Raum werden hier zusammengeführt.

Das Großhirn unterteilen wir in das limbische System und die Großhirnrinde. Das limbische System ist ein erst seit relativ kurzer Zeit als Einheit betrachteter Zusammenhang von Nervenleitbahnen, Drüsen und Einzelstrukturen, das man auch als die Schaltzentrale für den Gefühlshaushalt bezeichnet. Kein Wunder, dass dieser Bereich in der Psychotraumatologie eine wichtige Rolle spielt. Zunächst war nur davon die Rede, dass negative Gefühle hier entstehen und geregelt werden. Inzwischen geht man davon aus, dass auch positive arterhaltende Gefühle hier ihren Ursprung haben.

Im Einzelnen: Der Hypothalamus ist für Spannung und Entspannung verantwortlich und gibt seine entsprechenden Befehle weiter an die Amygdala (Mandelkern), die sie dann umsetzt. Die Amygdala ist auf verschiedenen Bahnen mit den Regulationsmechanismen für Herzschlag, Atmung, Blutdruck, Verdauung und Stoffwechsel, Reflexe, Angstausdruck im Gesicht, Magen / Darm-Reaktion und mit den Produktionszentren für jene Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) verbunden, die unsere Wachsamkeit erhöhen und uns flinker machen. Besonders schnell reagiert sie übrigens, wenn ein Geruch eintrifft, die Eindrücke aus dem Geruchssinn sind direkt mit ihr verknüpft. Sie ist die Schaltzentrale für unsere Gefühle, vor allem auch derjenigen, die dafür sorgen, dass wir uns am Leben erhalten können: Furcht, Angst, Ekel – und Lust. Damit gilt sie auch als die Alarmanlage unseres Gehirns, denn jeder von außen oder innen eintreffende Reiz wird von ihr auf seine Gefährlichkeit für das Überleben des Organismus hin überprüft. Informationen werden nur dann an die höher gelegenen Hirnregionen weitergeleitet, wenn das System (der Körper Mensch) nicht bedroht scheint. Das wird im Folgenden sehr wesentlich.

Ein weiterer wichtiger Bereich im limbischen System ist der Hippocampus (Seepferdchen). Er ist so etwas wie der Angestellte am Schalter einer Bibliothek, der Informationen annimmt, sie in eine Zwischenablage packt und nach Annahmeschluss (im Schlaf und in Ruhezeiten) dafür zuständig ist, alle angenommenen Informationen und Suchanfragen ans Archiv weiterzuleiten. Der Hippocampus ist sehr formbar und sehr störanfällig, er ist ein hochsensibles Instrument, das großen Anforderungen ausgesetzt ist: Er muss all das aufnehmen, was auf uns einwirkt. Dann soll er dafür sorgen, dass eine Weiterverarbeitung stattfindet. Das kann er nur unter entspannten Bedingungen. Wenn starke negative Emotionen mit den eintreffenden Informationen verknüpft sind, ist diese Arbeit nicht zu gewährleisten, auch dazu später mehr. Amygdala und Hippocampus kommen übrigens, wie fast alle Hirnstrukturen, in der linken und rechten Hirnhälfte, also doppelt vor.

Die Großhirnrinde (oder Neokortex) findet sich ganz obenauf und umschließt das limbische System. Mit ihm und dem Verbindungsstück zwischen beiden Gehirnhälften (dem Balken oder Corpus Callosum) zusammen bildet sie das...

Kategorien

Service

Info/Kontakt