Evidence based Nursing and Caring -

Evidence based Nursing and Caring -

von: Johann Behrens, Gero Langer (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2016

ISBN: 9783456954639

Sprache: Deutsch

332 Seiten, Download: 5640 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Evidence based Nursing and Caring -



1. Schritt: Auftrag klären in der Begegnung – Evidence- Informed Decision Making (S: 89-90)

1.1 Der Auftrag Ihrer Einrichtung

Die meisten Mitglieder der Pflegeprofession arbeiten in Einrichtungen. Die Einrichtungen sollen es ihnen ermöglichen, ihren Klienten zu dienen. Nicht selten fühlen sich die Pflegenden allerdings in einer Art Sandwichposition: Oben die Einrichtungsleitung, unten die pflegebedürftigen Klienten, und dazwischen Sie. Einige erinnert diese Position weniger an einen Sandwich als vielmehr an einen Schraubstock. Bei allem Leiden am Schraubstock hat diese Position auf den ersten Blick aber oftmals auch etwas Entlastendes. Allzu belastende Entscheidungsverantwortungen lassen sich gegenüber den Pflegebedürftigen und gegenüber einem selbst abwehren mit dem Spruch zur Klientin: „Ich verstehe Ihr Problem gut. Aber ich habe meine Vorschriften – und Sie haben Ihre Präferenzen!“

Beide Teile des Abwehrspruchs verdienen es, genauer angesehen zu werden – die „Vorschriften“ ihrer Einrichtung und die „Präferenzen“ ihrer Klienten. Fangen wir bei Ihren Vorschriften an, beim Auftrag Ihrer Einrichtung. Dazu können wir auf das im Grundlagenkapitel G Erörterte zurückgreifen. Denn dieses Grundlagenkapitel zeigte oder sollte zeigen, dass die pflegerische Auftragsklärung der entscheidende, aber auch riskante Schritt für den gemeinsamen Aufbau interner und für die Nutzung externer Evidence in der Begegnung mit der Klientin, für die Verknüpfung von Nursing und Caring ist.

Woher wissen Sie, was Ihr Auftrag ist? Viele Pflegeprozesse gehen daneben, weil die Aufgabenstellung nicht erarbeitet, sondern verhudelt wurde. Da ist es unverständlich, dass in vielen Darstellungen der Schritte Evidence-basierter Pflege und Medizin ausgerechnet der erste Schritt, die Aufgabenklärung, fehlt – als sei diese ganz unproblematisch gegeben.

Viele Pflegende fühlen sich zwischen ihrer Chefin, den wirtschaftlichen Überlebensinteressen der Einrichtung, den Versichertengemeinschaften einerseits und den Pflegebedürftigen und Patienten andererseits von zwei Seiten eingezwängt. Diese Zwangslage, so belastend sie ist, erlaubt manchmal auch bequeme Abwehrantworten. So hören Pflegebedürftige und Patienten von uns oft: „Ich verstehe Sie ja so gut, aber ich kann da leider nichts machen, die Kasse zahlt nicht und die Einrichtung erlaubt es mir nicht.“ Das ist natürlich falsch. Es wird aber daran klar, dass die meisten von uns mit zwei Seiten die Aufgabenstellung klären müssen: Mit der Einrichtung und mit den individuellen Pflegebedürftigen.

Von diesen beiden Seiten ist für die Einrichtung die Seite der Pflegebedürftigen die wichtigere – weil die Pflege der Pflegebedürftigen der Zweck der Einrichtung ist. Viele Pflegende empfinden das aber nicht so. Sie fühlen sich eher in einer Schraubstockposition, in der sie die Einrichtung von oben drückt und die Pflegebedürftige von unten. Von wem und wie bekommen Sie eigentlich Ihren Auftrag?

•• Von einer Pflegebedürftigen, die sich mit weitgehenden Hoffnungen oder präzisen Präferenzen (z. B. Franzbranntwein) an Sie wendet,
•• von Ihrer Berufsgruppe, die ein bestimmtes Angebot der Krisenintervention macht,
•• von Ihrem Gelübde,
•• von Ihrer Einrichtung, die ein Leistungsangebot macht,
•• von der Versichertengemeinschaft, die Ihre Rechnung zahlt oder
•• von der lokalen Gemeinschaft, die Pflegebedürftige nicht hilflos in der Öffentlichkeit sehen will, sondern wohlversorgt hinter Mauern?

Was ist Ihre Aufgabe

•• als Mitglied der Pflegeprofession, das überdies
•• von der Versichertengemeinschaft mit Bedarfsprüfungen betraut ist (z. B. in Diagnosen) und überdies
•• häufig in Einrichtungen angestellt ist und eine Chefin hat?

Die bisweilen auftretende Spannung zwischen methodischer Absicherung und Relevanz lässt sich produktiv wenden, wenn Sie als ersten Schritt von Evidence-based Nursing sich Ihres Auftrags, also Ihrer Perspektive vergewissern. Jede pflegerische Praxis ist theoriebasiert – gleichgültig, ob diese Basisperspektiven stillschweigend in unsere Arbeit eingehen oder ob wir sie uns bewusst machen. Die Klärung des pflegerischen Auftrags, der erste unter den sechs Schritten der EBN-Methode, ist noch aus einem zweiten Grund unerlässlich: Berufsmäßige Pflege ereignet sich in der Regel in vielgliedrigen arbeitsteiligen Zusammenhängen, in denen auch die Pflegebedürftigen ihren Part zu erfüllen haben (vgl. Literaturverzeichnis zu J. Behrens & Müller, 1989). Solche arbeitsteiligen Zusammenhänge individuieren sich zu Systemen mit einem gewissen Beharrungsvermögen. Als relevante Umweltinformation nehmen sie wahr und suchen, was zu ihnen passt (generell untersuchen das Maturana & Varela, 1987).

Keineswegs passt jede neue in der Literatur berichtete wissenschaftliche Erkenntnis in automatischer Harmonie zu den eingewöhnten Routinen, Grundüberzeugungen und Vorurteilen eines Hauses. Ein „Haus“ hat zwei Möglichkeiten: Entweder stellt es nur solche Fragen, deren Antworten gut zu ihm passen. Oder es unterzieht sich der zuweilen erheblichen Mühe, seine Praxis an Erkenntnisse anzupassen, die nicht zu seinen bisherigen Erfahrungen, Überzeugungen und Routinen passen. Damit ein „Haus“ sich überhaupt der erheblichen Mühe unterzieht, diese letztere Anpassung zu beginnen, müssen Sie sich auf die Hauptaufgabe der Einrichtung, die „primary task“, berufen können. Wenn ein wissenschaftliches externes Ergebnis eine Praxis begründet, die die Hauptaufgabe besser zu erfüllen hilft als die bisherigen Routinen, kann keine Einrichtung mehr begründet am Hergebrachten festhalten. Daher heißt der erste Teilschritt der sechs EBN-Schritte keineswegs: „Machen Sie sich klar, welche Fragen und Antworten zu den Routinen und Grundüberzeugungen Ihrer Einrichtung passen“, sondern der erste Schritt heißt: „Machen Sie sich klar, was die Hauptaufgabe Ihrer Einrichtung ist“. Die Aufgabe geht den Routinen und Überzeugungen vor. Und auf diesen ersten Schritt müssen Sie beim zweiten Teilschritt, bei der Auswahl der beantwortbaren Fragestellung ebenso zurückkommen können wie beim fünften Schritt, der Adaptation und Applikation der Einrichtung an die gefundenen Erkenntnisprozesse.

Sie können sich das immer noch an der Abbildung G2 auf Seite 29 klarmachen, die die pflegerische Problemlösungs- und Entscheidungssituation aufführt. Außer durch die interne Evidence der Pflegeanamnese und die externe Evidence aus Forschungsergebnissen wirken auf Entscheidungen noch die im unteren Kasten genannten Vorschriften, Faustregeln, Richtlinien, Routinen, ökonomischen und moralischen Anreize und gesetzlichen Regelungen ein. Wie sollten diese sich immer schon im Einklang mit den neuesten Forschungsergebnissen befinden können? Wessen unsichtbare, aber allwissende Hand könnte das bewirken? Um aber Vorschriften, Faustregeln, Richtlinien, Routinen, ökonomische und moralische Anreize sowie gesetzliche Regelungen (die häufig geringere Hindernisse bieten als die vorher genannten) ändern zu können, müssen Sie sich auf die primäre Aufgabe Ihrer Einrichtung berufen können. Und selbst dann wird es, worauf wir beim sechsten Schritt zurückkommen, nicht leicht. Dabei sind gesetzliche Regelungen oft deswegen die geringsten Hindernisse, weil Gesetzgeber sich mit „unbestimmten Rechtsbegriffen“ flexibel gegenüber neuen Erkenntnissen zu halten versuchen. Durchführungsvorschriften und Anreizstrukturen sind viel härteres Gestein.

Wo finden Sie die Hauptaufgabe Ihrer Einrichtung, damit Sie sich auf sie berufen können? Jede Organisation, auch der Ein-Personen-Pflegedienst, hat einen Zweck, der ihre Existenz rechtfertigt. Dieser primäre Zweck ist nicht die standesgemäße Entlohnung ihrer Mitglieder...

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