Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung

Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung

von: Hermann Brandenburg, Eva-Maria Panfil, Herbert Mayer

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456951607

Sprache: Deutsch

363 Seiten, Download: 30750 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung



Entscheidend ist, ob die Welt (oder ein Teil der Realität) einen Gegenstand darstellt, der aus Sicht des Forschers neutral beschrieben, klassifiziert und analysiert werden soll oder ob sein Anliegen die Kritik der bestehenden Verhältnisse und damit ein Beitrag zu deren Überwindung ist. Ein empirisch-analytischer Forscher in der Tradition von Karl Popper (und noch strenger sicher der klassische Positivismus von Comte bzw. der logische Empirismus von Carnap u.a.) sieht die Aufgabe von Wissenschaft und Forschung in einer wertfreien, die «Tatsachen» und deren Zusammenhänge darstellenden Untersuchung. Vertreter der Kritischen Theorie, aber auch anderer gesellschaftskritischer Positionen (etwa: Marxismus, Feminismus, Strukturalismus etc.), stellen hingegen die Möglichkeit einer wertneutralen Beschreibung grundsätzlich in Frage und legen den Akzent auf die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse und entsprechender Missstände.

Studienaufgabe 1-1

Bilden Sie zwei Gruppen, welche die Grundpositionen zur dritten Differenz weiter entwickeln sollen. Für diese Gruppenarbeit stehen Ihnen 40 Minuten zur Verfügung. Versuchen Sie Argumente für die eine wie für die andere Position zu finden. Verhandeln Sie Ihre Gruppenergebnisse in einem abschließenden und vom Dozenten moderierten Streitgespräch.

(4) Vierte Differenz: Theorien prüfen oder Theorien entwickeln?

Als letzte Differenz sei auf ein unterschiedliches Grundanliegen und die Zielrichtungen von Forschung verwiesen. Welche Forschungsthemen als relevant angesehen werden, wie Theorien gebildet werden, welche Gütekriterien (Qualitätskriterien) überhaupt an Forschung angelegt werden – die Entscheidung dieser methodologischen Fragen ist abhängig von einem grundlegenden (Vor)-Verständnis über Wissenschaft und Forschung. Es ist beispielsweise ein wichtiger Unterschied, ob es einem Forscher darauf ankommt, deduktiv vorhandene Theorien zu testen und zu überprüfen oder ob er primär an einer induktiv bestimmten Generierung neuer Theorien interessiert ist. Der erstgenannte Forscher wird möglicherweise ein ausführliches Literaturstudium vornehmen, sich auf eine bestimmte Theorie konzentrieren und diese dann mittels statistischer Verfahren überprüfen (z.B. ein «radikaler» Vertreter des Kritischen Rationalismus). Der an zweiter Stelle genannte Forscher wird u. U. ein intensives Literaturstudium ablehnen, weil dadurch die Offenheit für neue Erfahrungen im Feld möglicherweise eingeschränkt wird (z.B. ein «radikaler» Vertreter qualitativ orientierter Pflegeund Sozialforschung). Gerade bei Untersuchungsfeldern, in denen noch wenig empirische Befunde vorliegen – so das Argument – kommt es zunächst auf die Generierung von Theorien durch Feldforschung, Beobachtung, Gespräche etc. an. Bereits hier wird deutlich, wie grundlegende Annahmen, (Wert)-Urteile und Erkenntnisse über die Welt die Haltung, das Verständnis und bestimmte Forschungsformen (Designs) beeinflussen.

1.2.2 Designs

In der Forschung unterscheidet man unterschiedliche Designs. Der Begriff Forschungsdesign ist mit einem Kleidungsdesign vergleichbar. Menschen tragen in der Regel Unterwäsche, Oberbekleidung, Strümpfe und Schuhe. Je nach Ziel und Zweck des Anlasses entscheidet man sich für ein bestimmtes «Design», z.B. ein Design für einen festlichen Abend, ein Design zum Skifahren oder ein Design für die Gartenarbeit. Je nach gewähltem Design werden die Entscheidungen für die Kleidungsstücke anders ausfallen. Wählt man das falsche Design und besteigt mit festlicher Abendgarderobe einen Berg, wird man das Ziel nur schwerlich erreichen. Genauso verhält es sich mit den Forschungsdesigns.

Je nach Forschungsfrage sind unterschiedliche Designs zur Beantwortung geeignet.

Mit der Wahl eines bestimmten Designs korrespondieren bestimmte Entscheidungen u.a. für die Art und Größe der Stichprobe, Methoden der Datenerhebung, Gütekriterien und die Methoden der Datenanalyse. Die Forschungsdesigns werden je nach Wissenschaft und Autor zum Teil unterschiedlich eingeteilt. Die in der Pflegewissenschaft geläufigen Unterscheidungen sind:

• qualitative und quantitative Designs (Polit/ Beck/Hungler, 2004; Burns/Grove, 2005; LoBiondo-Wood/Haber, 2005)
• naturalistische und positivistische Designs (Lincoln/Guba, 1985)
• deskriptive, historische Forschung und experimentelle Forschung (Notter/Hott, 1997).

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen, dass es nicht die richtige Unterscheidung gibt. Forscherinnen und Forscher bevorzugen aus bestimmten Gründen die eine oder andere Einteilung. Der Autor dieses Beitrags beispielsweise unterscheidet zwischen «qualitativen» und «quantitativen» Designs. Wir können Ihnen eine eigene Entscheidung nicht abnehmen, denn sie hängt letztlich von erkenntnistheoretischen Grundpositionen ab. Bilden Sie sich selber eine Meinung und nutzen Sie dazu die Grundlagen, die im Band Pflegewissenschaft 1 formuliert worden sind.

Bei den genannten Differenzierungen wird jeweils ein Aspekt betont. Beispielsweise wird auf die Datenqualität abgehoben (quantitativ versus qualitativ), auf Unterschiede im Design fokussiert oder verschiedene Arten von Forschung unterschieden (deskriptiv, historisch, experimentell usw.). Wir haben bereits angedeutet, dass mit dem Design-Begriff eine Reihe von Implikationen verbunden sind; daher eignet sich eine Differenzierungskategorie, die breiter gefasst ist, nämlich die Unterscheidung nach nomothetischen (nach Gesetzmäßigkeiten suchende Ansätze [«quantitative Forschung»]) und idiografischen (nach individuellen Besonderheiten suchenden Ansätzen [«qualitative Forschung»]). Was hat man sich darunter genauer vorzustellen?

• Quantitative Forschung – nomothetischer Ansatz: Hier liegt der Akzent auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen in einer geordnet und regelhaft gedachten Welt. Anhänger dieser Position gehen davon aus, dass einzelne «Gegenstände» in der Welt, etwa das gehäufte Auftreten von Druckgeschwüren bei immobilen Patienten, die unterschiedliche Inanspruchnahme medizinisch-pflegerischer Leistungen in sozialen Schichten oder der Zusammenhang von Pflegequalität und Pflegestilen (selbstständigkeitsfördernd versus versorgend) mehr oder weniger systematisch vorliegen. Dies bedeutet, dass die einzelnen Gegenstände (dieser Begriff muss sehr weit gefasst werden) in geordneter Weise miteinander in Beziehung stehen und eine Struktur bilden. Unter diesen Umständen besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, die in der Welt vermuteten Zusammenhänge «aufzudecken», beobachtbare Ereignisse auf die ihnen zugrunde liegenden ursächlichen Bedingungen zurückzuführen und sie damit kontrollierbar, beherrschbar und prognostizierbar zu machen. Aussagen über die soziale Realität sollen im Idealfall «nomologischen» Charakter aufweisen, d. h. sie sollten in ihrem Geltungsbereich weder zeitlich noch räumlich relativiert sein.

Beispiel 1-1

Der Einsatz von Hilfsmitteln hat sich bei der Vermeidung von Stürzen und insbesondere der Sturzfolgen als sinnvoll erwiesen. Hierzu zählen beispielsweise Hüftprotektoren, die zum Ziel haben, dass bei einem Sturz möglichst wenig Kraft den Trochanter major belastet (Warnke, 2002). In der Konsequenz kommt es zu weniger Hüftfrakturen. Dies gilt für Altenund Pflegeheimbewohner (Meyer et al., 2003), ist aber auch für Hochrisikopatienten in anderen Settings wahrscheinlich. Die Hauptproblematik besteht darin, dass – trotz der Wirksamkeit – die Akzeptanz von Patienten und Bewohnern, den Hüftprotektor zu tragen, begrenzt ist (Parker et al., 2003). Hier kommt der Information, Beratung und Schulung durch erfahrende Pflegende eine wichtige Rolle zu (siehe dazu www.patientenedukation.de).

• Qualitative Forschung – idiografischer Ansatz: Im Gegensatz zu quantitativ-nomothetischen Ansätzen gilt hier die These einer vorgegebenen Struktur für den Bereich des Sozialen mit grundlegend gleich bleibenden Regeln nicht. Es wird postuliert, dass Menschen gesellschaftliche Strukturen (soziale Beziehungen, Regeln des Verhaltens und der Kommunikation) durch ihr Handeln selbst schaffen und damit auch ständig verändern. Die Art der Beziehung zwischen Menschen ergibt sich also nicht aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten und Strukturen, sondern wird auf der Basis des bei jedem Mitglied der Gesellschaft vorhandenen Alltagswissens immer wieder neu definiert, in der konkreten Situation gebildet und weiterentwickelt. Hierbei kommt es entscheidend auf gegenseitige Vorerfahrungen, Einstellungen (z.B. bestimmte [Vor]-Urteile über den anderen) und Wahrnehmungen (z.B. Auftreten, Gestik etc.) an, welche die subjektive Interpretation der Situation bestimmen. Erst durch diese Interpretation, Deutung und Auslegung erhalten die wahrgenommenen Dinge eine Bedeutung für die Person und werden handlungsrelevant. Aussagen über die soziale Realität sollen im Idealfall die Einzigartigkeit und Komplexität einzelner Personen bzw. Personengruppen widerspiegeln.

Beispiel 1-2
Pflegewissenschaftliche Studien haben untersucht, welche Bedeutung Krankheit und Leiden für den Patienten haben, wie Problemund Konfliktsituationen erlebt werden und welche Auseinandersetzungsformen der Patient entwickelt, um sich an die Krankheit anzupassen (vgl. für einen Überblick Moers et al., 1999). Beispielsweise hat Petry (1996), eine Mitarbeiterin aus dem Arbeitskreis um Kesselring, die Wahrnehmung einer verwirrten Patientin im Pflegeheim aus der Perspektive von Angehörigen und Pflegenden untersucht. Im Ergebnis konnten erhebliche Unterschiede festgestellt werden: Während die Angehörigen primär die Gefühle und das Befinden der Patientin im Blick hatten und ein facettenreiches Bild der Lebenswelt in der Institution entwarfen, orientierten sich die Aussagen der Pflegenden vorwiegend am störenden und aggressiven Verhalten der Patientin. Interessanterweise wird eine phänomenologische Deutung verwirrten Verhaltens angeboten. Abwehr gegen pflegerische Maßnahmen und das Bedürfnis wegzulaufen werden nicht als «Demenzsymptome» verstanden, sondern als Ausdruck der Angst, wenn die Betroffenen fühlen, dass sie ihr «Dasein» nicht mehr richtig kontrollieren können. Bosch (1992), eine niederländische Pflegewissenschaftlerin, interpretiert die Weglauftendenz im Kontext der Lebensgeschichte der Betroffenen, die das Pflegeheim nur als «vorübergehenden Aufenthaltsort» und ihre eigentliche Aufgabe in der Sorge für das «zu Hause» und ihrer Familien sähen. Befunde zur subjektiven Erfahrung von Krankenhauspatienten sind einer Untersuchung von Käppeli (1991) zu entnehmen. Sie befragte 40 ältere Patienten nach problematischen Erfahrungen im Krankenhaus und konnte feststellen, dass viele Patienten die Ereignisse ganz oder teilweise «falsch» interpretierten und sich unnötige Sorgen machten. Bemerkenswert waren die Antworten auf die Frage der Forscherin, ob die Patienten etwas zur Klärung ihrer Fragen und Vermutungen unternommen hätte: «Nein, ich akzeptiere alles, wenn es mir nur wieder besser geht» oder «Nein, ich bin nicht hier, um das Spital zu reorganisieren» oder «Ich bin nur ein kleiner Patient, und man muss gehorchen, das weiß man» waren typische Antworten (Käppeli, 1991: 204).

• Die Verbindung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung bzw. nomothetischem und idiografischem Ansatz: Wir haben gesehen, dass die Akzente unterschiedlich gesetzt werden. Entweder liegt der Fokus auf der Generalisierung der analysierten Gesetzmäßigkeiten oder auf der möglichst detaillierten Analyse der einzelnen Person(en). Betont werden muss jedoch, dass beide Perspektiven mit Begrenzungen verbunden sind. Beim quantitativen Ansatz wird die methodische Strenge durch eine Reduktion und Standardisierung der Komplexität des Alltags erreicht. Der reale Alltag in seiner Vielfältigkeit kann in einer experimentellen Situation nie abgebildet werden, sondern muss in seiner Komplexität reduziert werden. Bei den qualitativen Ansätzen kann kritisiert werden, dass die «Einzigartigkeit» von Personen überbetont und die Regelhaftigkeit sozialen Verhaltens unterschätzt wird. Die interindividuelle Variabilität beim quantitativen Ansatz erfordert zumeist Stichprobenuntersuchungen größeren Umfangs. Der «(Einzel) Fall» – so interessant er letztlich auch sein mag – ist aus stilistischer Sicht Zufall (Fall wird ethymologisch von Würfelfall abgeleitet). Bei aller Einstellung zum «Reichtum innerer Welten» und zur Komplexität menschlicher Persönlichkeiten muss die Gefahr vermieden werden (an der nicht wenige qualitative Ansätze gescheitert sind), dass man durch die faszinierende Vielfalt die…

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