Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf

Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf

von: Ewald Rahn, Angela Mahnkopf, Jürgen Junglas

Psychiatrie-Verlag, 2005

ISBN: 9783884147078

Sprache: Deutsch

767 Seiten, Download: 4491 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Lehrbuch Psychiatrie für Studium und Beruf



Organisch bedingte psychische Störungen (S. 222-223)

Vorbemerkung
Unter den organisch bedingten psychischen Störungen werden verschiedene psychische Krankheiten zusammengefasst, deren gemeinsames Merkmal eine vorübergehende oder andauernde Störung der Hirnfunktionen ist. Die Funktionsstörung kann primär sein, und zwar bei Krankheiten,Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen, oder sekundär beispielsweise bei Systemerkrankungen oder Störungen, die das Gehirn nur als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen beeinträchtigen. Die wesentlichen Merkmale dieser Störungen lassen sich in zwei Hauptgruppen gliedern. Es gibt Syndrome, bei denen die auffälligsten, immer vorhandenen Merkmale Störungen der kognitiven Funktionen wie Störungen des Gedächtnisses, des Lernens und des Intellekts sind oder Störungen des Sensoriums wie Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen. Bei der zweiten Gruppe liegen die auffälligsten Störungen im Bereich der Wahrnehmung (Halluzinationen), der Denkinhalte (Wahn), der Stimmung und der Gefühle oder im gesamten Persönlichkeits- und Verhaltensmuster, während kognitive Störungen gleichzeitig nur minimal auftreten. Die ICD-10 führt diese letztgenannte Gruppe (F06, F07, F09) aus klinisch-orientierenden Gründen im Kapitel organische psychische Störungen auf, betont aber die Ähnlichkeit ihrer Zustandsbilder mit anderen Krankheiten ohne strukturelle zerebrale Veränderungen. Das Attribut »organisch« weist auf einen gemeinsamen obligatorischen ätiologischen Faktor dieser Erkrankungen hin, sollte aber nicht so verstanden werden, dass nicht auch soziale und andere psychische Faktoren bei ihrer Entstehung und ihrem Verlauf eine Bedeutung haben.

Auch wenn das Ausmaß der Symptome und die Art der Symptomatik abhängig von dem Ort und der Stärke der hirnorganischen Veränderungen sind, führen verschiedenste Krankheiten doch zu ähnlichen Symptomkonstellationen, sodass mit einer gewissen Berechtigung von (exogenen) »Reaktionstypen« gesprochen werden kann.Von der Störungsform kann daher nicht direkt auf die Ätiologie und die Art der Hirnstörung geschlossen werden. Insbesondere bei geringem Ausprägungsgrad können die Symptome einer organisch bedingten psychischen Störung denen anderer seelischer Erkrankungen ähneln und zu differenzialdiagnostischen Schwierigkeiten führen: Etwa kann eine depressive Symptomatik der eigentlichen hirnorganischen Erkrankung vorausgehen oder zeitgleich mit ihr auftreten.

Demenz

Durch die Zunahme des Anteils alter Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt die relative und absolute Zahl demenzieller Erkrankungen zu. Die therapeutische Begleitung der Demenzkranken stellt die psychiatrische Versorgung vor eine wichtige Aufgabe und ist ein wesentlicher Grund für die Entwicklung einer umfassenden geronto- psychiatrischen Versorgung. Eine Demenz stellt für den Betroffenen und die Angehörigen immer eine existenzielle Krise dar. Dies begründet, warum gerade bei der Versorgung demenzkranker Menschen ethische Grundlagen des Handelns und die Art der therapeutischen Haltung besondere Beachtung verdienen.

Depression oder Demenz?

Herr Dr. Bernhardt, ein Allgemeinarzt, erscheint mit seiner Frau in der Klinik und sagt, dass die Ehefrau offensichtlich zunehmend depressiv verstimmt sei. In den letzten Monaten habe sie sich stark zurückgezogen und vermeide sozialen Kontakt, beides mit der Begründung, sie könne Lärm nicht gut vertragen. Deswegen sei sie kaum dazu zu bewegen, die Wohnung zu verlassen. Auch Besuche von Familienangehörigen und Freunden lehne sie mittlerweile ab, weil sie vom Lärm der Besucher irritiert werde. Herr Bernhardt berichtet davon, dass die Ehefrau gelegentlich Paniksymptome entwickle, etwa wenn Straßenlärm durch das offene Fenster in die Wohnung dringe. Deswegen achte sie sehr darauf, dass alle Fenster der Wohnung fest verschlossen blieben.Herr Bernhardt bedauert diese Entwicklung sehr, hatte er doch mit seiner Frau das gemeinsame Haus aufgegeben und war in eine kleine Wohnung gezogen, nachdem die Kinder erwachsen waren. Zusammen mit ihr wollte er den letzten Lebensabschnitt durch Reisen und gemeinsame Unternehmungen gestalten. Daran sei aber zurzeit nicht zu denken.

Frau Bernhardt gibt an, dass sie sehr viele Ängste vor dem Arzttermin gehabt habe und nur auf Drängen des Mannes gekommen sei. Die Begründungen des Ehemannes für den Kliniktermin habe sie nicht ganz verstanden, zumal er selbst Arzt sei und ihr auch helfen könne. Sie fühle sich ansonsten nicht krank. Sie habe halt diese Lärmempfindlichkeit, depressiv sei sie auf keinen Fall. Die Eheleute berichten übereinstimmend, wie harmonisch ihre Beziehung sei. Herr Bernhardt sei wohl der Bestimmendere, er neige auch dazu, alles kontrollieren zu wollen. Sie selbst habe sich eher zurückgehalten und sich immer am Ehemann orientiert. Dadurch sei es nur selten zu Auseinandersetzungen gekommen. Die gemeinsamen Kinder hätten alle eine gute Entwicklung genommen, arbeiteten jetzt in den erlernten Berufen und hätten eigene Familien.

Schon beim ersten Kontakt fällt auf, dass Frau Bernhardt immer wieder Schwierigkeiten hat, einzelne Begriffe zu finden. Sie entschuldigt sich dafür und begründet die Sprachstörung durch ihre Aufregung. Erst bei einem der nächsten Gespräche kommt ihr Mann in einem Nebensatz auf die zunehmende Vergesslichkeit der Ehefrau zu sprechen. Schon seit einiger Zeit habe sie begonnen wichtige Termine auf Zettel zu schreiben, habe aber diese Zettel immer wieder verlegt. Auch sei ihm aufgefallen, dass seine Frau nicht mehr gerne telefoniere und auch nicht mehr am Einkauf interessiert sei. Zudem habe er kürzlich bemerkt, dass sie eine Nachbarin nicht wiedererkannt habe.

In den folgenden Gesprächen verdichtet sich immer mehr der Eindruck, dass Frau Bernhardt eine Demenz entwickelt. Als in diesem Zusammenhang der Ehemann eher durch Zufall auf den Begriff »Alzheimer« kommt, bricht er unvermittelt in Tränen aus. Auf Nachfrage berichtet er, dass er seit einiger Zeit den Verdacht habe, seine Ehefrau entwickele eine Alzheimer- Demenz. Die ersten Anzeichen bei seiner Frau habe er zunächst ignoriert oder durch Überlastung und Stress zu begründen versucht.Weil die Ehefrau sich zurückgezogen habe, seien die Störungen auch den Bekannten und den Familienangehörigen eigentlich nicht aufgefallen. Lediglich der Umstand, dass Frau Bernhardt zum Weihnachtsfest nicht wie üblich einen besonderen Kuchen gebacken habe, habe eines der Kinder bemerkt. Er habe auch mit den Kindern nicht über seine Sorgen sprechen können, weil er sie nicht habe unnötig belasten wollen.

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