Primary Nursing - Primäre Pflege - Ein personenbezogenes Pflegesystem

Primary Nursing - Primäre Pflege - Ein personenbezogenes Pflegesystem

von: Susan Wessel, Marie Manthey, Maria Mischo-Kelling

Hogrefe AG, 2023

ISBN: 9783456762388

Sprache: Deutsch

245 Seiten, Download: 4316 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Primary Nursing - Primäre Pflege - Ein personenbezogenes Pflegesystem



|27|2  Historie: Auf und Ab pflegerischer Autonomie


Marie Manthey

Übernommen aus The Practice of Primary Nursing – 1980, 2002, überarbeitet 2015


Die Primäre Pflege ist ein auf der Stationsebene angesiedeltes Pflegesystem, das die Ausübung einer professionell ausgeführten Pflege auch innerhalb bürokratischer Krankenhausstrukturen ermöglicht. Die Ausübung eines Berufs bzw. einer Profession gründet auf der unabhängigen Einschätzung des Bedarfs eines Menschen, aus dem sich Art und Umfang der zu erbringenden Dienstleistung ergeben: Bürokratisch geregelte Dienstleistungen werden gewöhnlich nach vorher festgelegten Routinen erbracht, ohne auf die gegebenen Unterschiede im Bedarf einzugehen. In bürokratischen Strukturen werden die Aufgaben in Service-Linien oder Abteilungen zusammengefasst, die von Führungskräften geleitet werden, die normalerweise die Entscheidungsbefugnis innehaben.

An dieser Stelle kommt die Primäre Pflege ins Spiel: Damit eine professionelle Pflegekraft in einer bürokratischen Umgebung erfolgreich arbeiten kann, muss das Pflegesystem darauf ausgerichtet sein, den bürokratischen Aufwand zu minimieren und die Ermächtigung, die Verantwortung/Rechenschaftspflicht und die Autorität der professionellen Pflegkräfte zu maximieren.

Innerhalb einer bürokratischen Struktur können viele verschiedene Organisationssysteme nebeneinander bestehen, um die zahlreichen unterschiedlichen Aufgaben der Abteilungen zu erfüllen. Diese Systeme können sowohl bürokratischen wie professionellen Wertvorstellungen folgen, was weitgehend von der Ausgestaltung des Systems und der Philosophie der Führung in der Organisation abhängt. Bevor die Primäre Pflege 1968 im Universitätskrankenhaus von Minnesota eingeführt wurde, stand das Pflegesystem des Krankenhauses eher für bürokratische als für professionelle Werte. Sowohl das System der Funktionspflege (in dem eine Pflegekraft für alle Medikamente, eine andere für alle Therapien und verschiede|28|ne andere für das Waschen der Patienten zuständig sind), als auch die Gruppenpflege orientierten sich an Modellen der Massenproduktion, wobei die am wenigsten komplexen Aufgaben den am wenigsten ausgebildeten Mitarbeitenden, die komplexeren Tätigkeiten den besser Ausgebildeten übertragen wurden, und so weiter im Sinn einer Hierarchie der Komplexität der Aufgaben. In diesen Systemen wurden den examinierten Pflegekräften zwei Aufgabenbereiche zugewiesen: 1) die komplexeren Tätigkeiten selbst durchzuführen und 2) die Arbeit der geringer qualifizierten Kräfte zu koordinieren und zu überwachen. Examinierte Pflegekräfte waren in diesem System keine professionell Pflegenden, sondern sie waren „Kontrolleure für Hilfskräfte“. Eine solche Arbeitsdynamik mag für die Fabrikarbeit sinnvoll sein, in der Hilfsarbeiter stundenweise als Aushilfe eingesetzt werden, aber im Bereich der Pflege, wo kritisches Denken und Erfahrung zentrale Werte sind, wäre das eine verantwortungslose Vergeudung von Talent. Außerdem lässt ein solches System keinen Platz für den Aufbau einer therapeutischen Beziehung zum Patienten.

Die Primäre Pflege ist ein Organisationssystem, das Pflegekräften ermöglicht, ihre professionelle Rolle zu entwickeln, in der ihre fachlichen (technischen) und ihre beziehungsbezogenen Fähigkeiten gleichermaßen unterstützt und gewürdigt werden. Einfach gesagt, kann ein Pflegesystem die Pflegekräfte entweder aktiv bei der vollumfänglichen Ausgestaltung ihrer professionellen Rolle unterstützen, oder es führt zur Deprofessionalisierung der Pflege.

Im Allgemeinen gibt es vier von der Soziologie definierte charakteristische Merkmale, die eine Profession von anderen Bestrebungen oder Berufen unterscheiden. Diese sind:

  1. ein identifizierbarer Wissensstock, der am besten in einer formalisierten Ausbildung vermittelt werden kann

  2. eine autonome Entscheidungsfindung

  3. eine kollegiale Überprüfung der Praxis (peer-review)

  4. die Identifikation mit einem Berufsverband, der die Standards setzt und als Schlichter fungiert.

Einfach gesagt, verfügt die Pflege über einen identifizierbaren Wissensstock, eine kollegiale Überprüfung der Praxis und eine Identifikation mit einem entsprechenden Berufsverband. Es ist in der Regel das Ausmaß, bis zu dem ein Krankenhaus das zweite Charakteristikum – die Autonomie der Entscheidungsfindung – unterstützt, das darüber entscheidet, ob die Primäre Pflege gefördert oder behindert wird. Die Unterstützung darf kein Lippenbekenntnis sein. Nochmal: Entweder fördert das Pflegesystem eines Krankenhauses bzw. eines Gesundheitsunterneh|29|mens die autonome Entscheidungsfindung durch die professionelle Pflege oder es führt zur ihrer Deprofessionalisierung.

Die Deprofessionalisierung ist nach wie vor ein Hauptproblem nicht nur der Pflege, sondern auch anderer Professionen. In den letzten vier Jahrzehnten haben makropolitische und ökonomische Veränderungen die Gesellschaft, die Gesundheitsversorgung und die Pflege gründlich verändert. Die drei wichtigsten Triebkräfte dieser Veränderungen waren finanzielle, rechtliche und technologische Faktoren. Die Gesundheitsversorgung in den Vereinigten Staaten wurde mehr zu einem Geschäft als zu einem sozialen Anliegen. Profitgetriebene Krankenhäuser, die Entstehung von Krankenhausverbünden bzw. Gesundheitskonzernen durch Fusionen und Übernahmen sowie komplexe Vergütungssysteme und ausgearbeitete Marketingstrategien wurden zu den sichtbaren Zeichen der Systemveränderungen der 1980er und 1990er Jahre. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts brachten uns die ökonomische Rezession und eine umfangreiche Reform des Gesundheitssystems die zentralisierte Entscheidungsfindung zurück. Integrierte Gesundheitssysteme und Accountable Care Organisationen haben sich vervielfacht, um die gesamte Versorgung in einer einzigen Struktur zu fassen. Die große Zahl der Nichtversicherten und ein intensivierter Wettbewerb unter den Gesundheitssystemen drücken auf die Einkommen, während die Kosten der Gesundheitsversorgung nach wie vor schneller steigen als das Bruttoinlandsprodukt als Ganzes. Vergütungssysteme lenken klinische Entscheidungen und reduzieren die Autonomie der Ärzte und Ärztinnen und anderer Angehöriger der Gesundheitsberufe. Krankenhausbezogene Standards sowie finanzpolitische Regulierungen erodieren die professionelle Autonomie aller Angehörigen der Gesundheitsberufe. Auf diese Weise erleben die Angehörigen vieler Berufe innerhalb und außerhalb des Gesundheitssystems genau die Deprofessionalisierung, die die Pflegekräfte als erste erlebten, als ihre Arbeit sich in die Krankenhäuser verlagerte.

2.1  Pendelschlag von tätigkeits- zu beziehungsbasierter Pflege


Die Geschichte der Pflege von den 1870er bis zu den 1930er Jahren markiert den allmählichen Übergang von einer autonomen und ganzheitlichen Pflegepraxis, die für die Private Duty-Pflege charakteristisch ist, hin zu einer Pflege in bezahlten Arbeitsverhältnissen in bürokratischen Institutionen.

Die früheste Periode der Pflege in den Vereinigten Staaten von den 1870er Jahren bis zur großen Depression trug insofern paradoxe Züge, als eine tätig|30|keitsorientierte Pflege ausschließlich in den Krankenhäusern vorkam, wo die Pflegeausbildung stattfand und die Pflege in der Regel von Auszubildenden ausgeführt wurde. Die große Mehrzahl der examinierten Pflegekräfte waren in dieser Zeit als private Pflegekräfte für Einzelpersonen in Privathaushalten angestellt, eine aus sich heraus beziehungsbasierte Tätigkeit. In den späten 1930er Jahren, als eine große Zahl dieser Pflegekräfte von der Private Duty-Pflege wieder in die Krankenhäuser zurückkehrte, muss ihnen das vorgekommen sein, als ob sie in professioneller Hinsicht einen großen Schritt zurück gemacht hätten, weil sie...

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