Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung

Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung

von: Hermann Brandenburg, Eva Panfil, Herbert Mayer, Berta Schrems

Hogrefe AG, 2023

ISBN: 9783456762258

Sprache: Deutsch

488 Seiten, Download: 21523 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Pflegewissenschaft 2 - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Methoden der Pflegeforschung



|17|1  Wissenschaftstheoretische Positionen, Designs und Methoden in der Pflegeforschung


Hermann Brandenburg und Berta Schrems

Dieses Kapitel setzt an den Ausführungen zum Paradigmenbegriff und zu den wissenschaftstheoretischen Positionen von Pflegewissenschaft 1 an und führt diese Diskussion weiter (Brandenburg & Dorschner, 2021). Zu klären ist, wie die Begriffe „Wissenschaftstheoretische Positionen“, „Designs“ und „Methoden“ zusammenhängen bzw. wo sie voneinander abgegrenzt werden können. Dies ist deshalb bedeutsam, weil mit wissenschaftstheoretischen Positionen Implikationen über bestimmte Designs verbunden sind. Diese wiederum legen die Anwendung bestimmter Methoden zur Erhebung von Daten bzw. deren Auswertung nahe. Anders formuliert: Weil das Nachdenken über die Wissenschaft im Allgemeinen die Grundlage für wissenschaftliches Handeln im Besonderen darstellt, ist es wesentlich, die jeweilige Funktion und das Zusammenwirken der drei Ebenen im Wissenschaftsprozess zu kennen. Darum plädieren wir dafür, diese Ebenen analytisch auseinanderzuhalten, sonst sind Begriffsverwirrung und Unverständnis vorprogrammiert.

Die erste Ebene betrifft die grundlegenden Einstellungen zur Aufgabe und Vorgehensweise von Wissenschaft und Forschung1 (wissenschaftstheoretische Positionen). Beispiele hierfür sind der Kritische Rationalismus, die Kritische Theorie, die Phänomenologie, der (Radikale) Konstruktivismus sowie der Poststrukturalismus (Brandenburg & Dorschner, 2021). Die genannten Positionen beinhalten erkenntnistheoretische Aussagen und unterscheiden sich zum Teil grundsätzlich in Rolle und Funktion, welche der Wissenschaft in der modernen Welt zugeschrieben werden. Sie sind eng verbunden mit Überlegungen zur Forschungslogik und münden letztlich in eine „Theorie der Methoden“ (Methodologie).

Beispiel 1-1

Die „Grounded Theory“ kann im weitesten Sinne als ein „konstruktivistisches Verfahren“ angesehen werden und ist in ihrer handlungstheoretischen Fundierung sehr stark im amerikanischen Pragmatismus verwurzelt.

Die zweite Ebene ist die der Designs (vgl. Kap. 4, 5 und 6). Es geht hier um die Entwicklung eines für die Untersuchung einer bestimmten Fragestellung geeigneten Forschungskonzepts (Design). Das Design hängt natürlich von wissenschaftstheoretischen Grundsatzentscheidungen ab, das heißt, es wird auch von der Methodologie beeinflusst. Wer von einer von unserem Bewusstsein getrennten und empirisch beobachtbaren Welt ausgeht („Neuer Realismus“) (Gabriel, 2014), für den sind |18|quantitative (standardisierte) Designs sinnvoll, die er bzw. sie z. B. mit bestimmten messtheoretischen Überlegungen im Hinblick auf den Zusammenhang relevanter Dimensionen und Merkmale verbinden wird. Und wer von einer konstruktivistischen Auffassung geprägt ist und von der subjektiven „Konstruktion der Wirklichkeit“ – so der Titel eines soziologischen Klassikers von Berger und Luckmann (2003) – ausgeht, der wird eher zu qualitativen Verfahren neigen, denn sie erlauben einen rekonstruktiv-interpretatorischen Zugang zur Wirklichkeit.

Beispiel 1-2

Die „Grounded Theory“ wird vornehmlich in deskriptiven (beschreibenden) Designs angewandt. In einem ersten Schritt wird dazu ein induktiver Ansatz verwendet, das heißt, die Daten werden aus Einzelfällen und ohne theoretische Vorannahmen gesammelt.

Die dritte Ebene (Datenerhebung und -analyse) umfasst den konkreten Einsatz natur- oder sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden (vgl. Kap. 4 bis 7, 10 und 11). Ob und inwieweit ein standardisierter Fragebogen oder offene Interviews sinnvoll sind, hängt von dem Design und letztlich von wissenschaftstheoretischen Grundüberzeugungen ab. Grundsätzlich sind Forschungsmethoden Werkzeuge, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen zur Anwendung kommen können.

Beispiel 1-3

Bei der „Grounded Theory“ kann die Datenerfassung im Rahmen einer qualitativ deskriptiven Studie z. B. mittels Interviews oder Beobachtungen erfolgen.

Wenn wir alle drei Ebenen zusammennehmen und bei unserem Beispiel der Grounded Theory bleiben, kann man daraus eine Verdichtung des Forschungsansatzes in fünf Prinzipien ableiten:

  1. theoretisches Sampling (d. h. ständiges Wechselspiel von Datenerhebung und -auswertung)

  2. theoriebasiertes Codieren (d. h. Herstellen eines Zusammenhangs zwischen Konzepten und Kategorien)

  3. permanenter Vergleich

  4. Schreiben von Memos (zur Reflexion)

  5. Relationierung von Erhebung, Codierung und Memoschreiben, um den Forschungsprozess zu strukturieren und die Theoriebildung voranzutreiben.

Die erwähnten Zusammenhänge werden in Forschungsarbeiten häufig nicht oder nur ansatzweise transparent gemacht und selbst von Forschenden nicht selten unhinterfragt akzeptiert. Für jede Forschungsarbeit und deren Beurteilung ist es jedoch wichtig, dass über die eingesetzten Methoden und deren Hintergründe Rechenschaft abgelegt und den Lesenden entsprechende Begründungen deutlich gemacht werden.

Lernziele

Nach dem Bearbeiten dieses Kapitels sollen Sie

  • die Aufnahme bzw. Kritik des Paradigmenbegriffs von Kuhn in der Pflegewissenschaft nachvollziehen können,

  • die Begriffe „Wissenschaftstheoretische -Position“, „Design“ und „Methoden“ voneinander abgrenzen können,

  • eine Systematik der genannten Begriffe kennen.

Schlüsselwörter

Wissenschaftstheoretische Position, Design, Methoden

1.1  Vorbemerkungen: Paradigmen in der Pflegewissenschaft


Bevor wir in das Kapitel einsteigen, ist es wichtig, einige grundsätzliche Hinweise zur Diskussion in der Pflegewissenschaft zu geben. Wir |19|verfolgen die Debatten über nahezu 30 Jahre – da hat sich einiges getan. Bereits in Pflegewissenschaft 1 haben wir einige Aussagen zum Begriff des Paradigmas, seiner Bestimmung durch Kuhn und der Diskussion um das sogenannte Metaparadigma in der Pflege gemacht. Es wurde gezeigt, dass – obwohl der Paradigmenbegriff bei Kuhn in unterschiedlicher Art und Weise bestimmt wurde – im Kern darunter grundlegende theoretische Ansichten über die Möglichkeiten der menschlichen Erkenntnis und die damit verbundene Rolle von Wissenschaft und Forschung zu verstehen sind. Zu betonen ist auch, dass Paradigmen einen mehr oder weniger klar definierten Konsens innerhalb einer Gemeinschaft von Wissenschaftsbetreibenden über Methoden und Techniken der Erkenntnisgewinnung beinhalten.

Was hat das mit der Pflegewissenschaft bzw. -forschung zu tun? Beobachtende der Szene konstatierten vor mehr als 20 Jahren, mit dem Konzept „evidence-based nursing“ habe das empirische Paradigma in der Pflegewissenschaft Einzug gehalten (Ingersoll, 2000; Fawcett et al., 1999). Es kann dies als ein Paradigmenwechsel von einer normativ orientierten Disziplin, im Sinne der großen Pflegetheorien in den Anfängen der Pflegewissenschaft, hin zu einer empirisch fundierten Wissenschaft gesehen werden. Dieser Wandel erfolgte nicht revolutionär, sondern vielmehr in Form eines stetigen Wandels von Forschungsprogrammen als Reaktion auf Problemverschiebungen im Praxis- und Forschungsfeld (Lakatos, 1974).

Wie auch immer man diese Entwicklung beurteilt – dieser Perspektivenwechsel hat enorme Auswirkungen auf Wissen, Einstellung und Praxis der Pflege insgesamt (bis hin zur Pflegepolitik). Welcher Prozess der Wissensentwicklung in der Pflege auch angenommen wird, eine Verständigung und Auseinandersetzung über die Grundannahmen von Wissenschaft und Forschung sind...

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