Gesundheitsförderung und Versorgung im ländlichen Raum - Grundlagen, Strategien und Interventionskonzepte

Gesundheitsförderung und Versorgung im ländlichen Raum - Grundlagen, Strategien und Interventionskonzepte

von: Christian Weidmann, Birgit Reime

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456759791

Sprache: Deutsch

360 Seiten, Download: 8580 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Gesundheitsförderung und Versorgung im ländlichen Raum - Grundlagen, Strategien und Interventionskonzepte



|11|Gesundheitsförderung und gesundheitsbezogene Versorgung im ländlichen Raum: eine Einleitung


Christian Weidmann und Birgit Reime

Hintergrund


Obwohl die Herausforderungen der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit erhalten haben, gibt es bislang international keine einheitliche Definition des ländlichen Raums. Auch in Deutschland existierte bis vor Kurzem in der amtlichen Statistik keine Ausweisung des ländlichen Raums. Inzwischen hat das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung eine Einteilung vorgelegt, in der knapp 70 % der Fläche als ländlich ausgewiesen werden. Rund 30 % der deutschen Bevölkerung lebt in diesem Raum. Basis für diese Einteilung ist die Zuordnung der Stadt- und Landkreise Deutschlands zu einem von vier strukturellen Kreistypen, basierend auf der Einwohnerdichte und dem jeweiligen Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- & Raumforschung, 2020). Landkreise mit einer Einwohnerdichte unter 150 Einwohnern je km2 und einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von unter 50 % werden hierbei dem ländlichen Raum zugeordnet, alle anderen Kreise dem städtischen Raum. Der ländliche Raum Deutschlands befindet sich in dieser Raumabgrenzung vor allem in Nord- und Ostdeutschland sowie in weiten Teilen Bayerns. Als städtischer Raum gelten dagegen vor allem Nordrhein-Westfalen, das südliche Hessen, das Saarland und weite Teile Baden-Württembergs.

Die Einteilung des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung nutzt wie viele andere internationale Klassifikationen die Einwohnerdichte zur Abgrenzung des ländlichen Raums, wobei die Grenze von 150 Einwohnern je km2 nicht in allen Ländern angesetzt wird, was die Vergleichbarkeit von Studien erschwert (Weinhold & Gurtner, 2014). Zur Abgrenzung von Stadt und Land wurden in anderen Klassifikationen noch weitere Indikatoren herangezogen: Durch die Berücksichtigung soziodemografischer Merkmale ergab sich eine Differenzierung des ländlichen Raums in Räume mit guter und weniger guter ökonomischer Perspektive (Küpper, 2016; Schulz, Czihal, Erhart & Stillfried, 2016). In Forschungsdatensätzen findet sich häufig aber die datensparsame und leicht rekonstruierbare Einteilung des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung auf Basis der siedlungsstrukturellen Kreistypen1.

Vergleicht man die Bevölkerung im ländlichen und im städtischen Raum, zeigt sich ein höheres Durchschnittsalter im ländlichen Raum. Im Jahr 2017 betrug die Differenz im Durchschnittsalter fast zwei Jahre (45,3 Jahre vs. 43,4 Jahre im städtischen Raum) und der Bevölkerungsanteil der Personen über 65 Jahre war mit 23 % erkennbar höher als im städti|12|schen Raum (20,7 %). Als Ursache dieser Altersunterschiede gelten vor allem die im neuen Jahrtausend zu beobachtenden Urbanisierungstendenzen in der jüngeren Bevölkerung. Die Bildungs-, Erwerbs- und Lebensbedingungen erscheinen jungen Erwachsenen im städtischen Raum attraktiver, wodurch sich Wanderungsgewinne des städtischen Raums ergeben (Gans, 2017; Henger & Oberst, 2019). Eine vergleichbare Entwicklung ist in der älteren Bevölkerung nicht zu erkennen und der Altersaufbau in Stadt und Land geht daher auseinander.

Diese Veränderungen verschärfen die ohnehin zu beobachtenden Verschiebungen in der Altersstruktur, die unter dem Schlagwort des demografischen Wandels diskutiert werden. Anhaltend niedrige Geburtenraten bei zugleich steigender Lebenserwartung führen dazu, dass sich Deutschland ebenso wie weitere europäische Länder in einem längerfristigen Alterungsprozess mit rückläufiger Bevölkerungsentwicklung befindet (Statistische Ämter des Bundes & der Länder, 2011). Dieser Prozess führt zu einer deutlich stärkeren Besetzung der oberen Altersklassen mit nachhaltigen Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben und insbesondere für die sozialen Sicherungssysteme. Der demografische Wandel vollzieht sich in ganz Deutschland, regional allerdings in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Der ländliche Raum – insbesondere in Ostdeutschland – ist durch die bereits thematisierten Wanderungsverluste in der Gruppe der jungen Erwachsenen bereits heute stark von der Alterung betroffen. Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes lassen erwarten, dass auch weiterhin der ländliche Raum besonders stark altern wird (Maretzke, 2017; Schlömer, 2015).

In der Folge sind bei chronischen Erkrankungen mit alterstypischem Verlauf erhöhte Krankheitsraten im ländlichen Raum, vergleichbar mit anderen westlichen Ländern, zu erwarten. Nach Adjustierung für soziodemografische und gesundheitsbezogene Faktoren ergab sich bei US-amerikanischen Landbewohnern ein deutlich höheres Risiko, an einer demenziellen Erkrankung zu leiden, als bei gleichaltrigen Stadtbewohnern (Weden, Shih, Kabeto & Langa, 2018). Ferner scheint es in den ländlichen Regionen mehrerer Länder Barrieren für eine valide Diagnostik einer demenziellen Erkrankung zu geben (Barth, Nickel & Kolominsky-Rabas, 2018). In Deutschland fand sich beim Diabetes mellitus Typ 2, der vor allem im fortgeschrittenen Lebensalter auftritt, unter AOK-Versicherten deutliche Prävalenzunterschiede zwischen den siedlungsstrukturellen Kreistypen. Während in den dünn besiedelten ländlichen Kreisen eine Diabetes-Prävalenz von 10,1 % vorlag, zeigte sich in den kreisfreien Großstädten mit mehr als 500 000 Einwohnern lediglich eine Prävalenz von 7,6 % (Wissenschaftliches Institut der AOK, 2019). Diese Unterschiede sind im Sinne eines Kompositionseffektes in erster Linie durch die unterschiedliche Altersstruktur in Stadt und Land zu erklären, da die Prävalenzunterschiede unter Adjustierung der Geschlechts- und Alterszusammensetzung in den Stadt- und Landkreisen deutlich geringer ausfielen. Allerdings zeigte sich in verschiedenen Studien, dass auch in adjustierten Modellen weiterhin regionale Unterschiede bestehen und es neben der Alterszusammensetzung somit weitere Ursachen für Stadt-Land-Unterschiede geben muss (Kauhl, Schweikart, Krafft, Keste & Moskwyn, 2016; Kroll & Lampert, 2010).

Die ungleiche Verteilung von Übergewicht und Adipositas, welche die Entstehung eines Diabetes mellitus begünstigen, kann ein solcher Erklärungsansatz sein. Auch hier gibt es in Deutschland Belege für eine stärkere Verbreitung von Übergewicht und Adipositas im ländlichen Raum (Kroll & Lampert, 2010; Wissenschaftliches Institut der AOK, 2019). Ähnliche Befunde zeigten sich auch in einer globalen Betrachtung der Gewichtsentwicklung in Stadt und Land auf der Basis einer umfassenden Metaanalyse. Im Zeitraum von 1985 bis 2017 war es die Landbevölkerung, die weltweit ihren Body-Mass-Index besonders stark steigerte und höhere durchschnittliche Zuwachsraten als die Stadtbevölkerung verzeichnete (|13|NCD Risk Factor Collaboration, 2019). In den westlichen Industrienationen liegt daher inzwischen der Body-Mass-Index der Landbevölkerung über dem der Stadtbevölkerung. Vor diesem Hintergrund ist der markante Anstieg der Adipositas-Prävalenzen in den letzten Dekaden, der in vielen Industrienationen und am stärksten in den USA zu beobachten ist, hauptsächlich durch die starke Gewichtszunahme der Landbevölkerung bedingt (NCD Risk Factor Collaboration, 2019).

Eine Erklärung dieser starken Gewichtszunahme speziell im ländlichen Raum steht noch aus und es wurden bisher unterschiedliche Ansätze diskutiert: Neben der bereits angesprochenen abweichenden Alterszusammensetzung könnten die geringeren Bildungschancen und die niedrigeren Durchschnittslöhne, die sich in der Regel im ländlichen Raum finden lassen, die Gewichtsentwicklung erklären. Ebenfalls relevant könnte die schlechtere Verfügbarkeit von gesunden und qualitativ hochwertigen Lebensmitteln, der hohe Fettanteil in den ländlichen Ernährungsmustern, das geringere Angebot an sicheren Sport- und Bewegungsstätten und die stärkere Abhängigkeit vom Automobil aufgrund des schlechter ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs sein (Befort, Nazir & Perri, 2012; NCD Risk Factor Collaboration, 2019).

Allerdings werfen diese Erklärungsansätze neue Fragen auf: Werden nicht viele der gesunden Nahrungsmittel im ländlichen Raum angebaut und sollten dort auch verfügbar sein? Bewegt sich die...

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