Schreien und Rufen - Herausforderndes Vokalisationsverhalten bei Menschen mit Demenz

Schreien und Rufen - Herausforderndes Vokalisationsverhalten bei Menschen mit Demenz

von: Hans?Werner Urselmann, Jürgen Georg

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456759524

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 14184 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schreien und Rufen - Herausforderndes Vokalisationsverhalten bei Menschen mit Demenz



2 Am Anfang war der Schrei?

An dieser Stelle wird die Darstellung des Ursprungs der Sprache in Verbindung mit der Bedeutung des Schreis kurz skizziert.

Trabant (2008) schreibt, dass im 18. Jahrhundert der Schrei an den Anfang der menschlichen Sprache gestellt wurde, wonach Condillac die Sprache aus dem «cri des passions», dem Schrei der Leidenschaft entstehen ließ. Herder übersetzte diesen «cri des passions» als «Geschrei der Empfindungen». Demnach empfand der «Urmensch» ein Bedürfnis wie Hunger oder Durst, das er nicht unmittelbar und alleine befriedigen konnte, so dass er, begleitet durch eine Bewegung seines Körpers, einen Schrei ausstieß. Dieser Schrei wurde von den anderen Menschen wahrgenommen und in einem Akt des Mit-Leids ­kamen sie ihm zu Hilfe. Trabant (2008) bemerkt weiter, dass Rousseau diese Entstehung kritisierte, weil er an dem angeborenen Instinkt des Mit-Leids zweifelte. In seinem 1. Discours stellt Rousseau den Schrei ebenfalls als ­Ursprung der Sprache des Menschen dar:

Le premier langage de l’homme [...] est le cri de la Nature. [...] Quand les idées des hommes commencérent à s’étendre et à se multiplier, et qu’il s’ établit entre eux une communication plus étroite, ils [...] exprimoient [...] les objets visibles et mobiles par des gestes, et ceux qui frappent l’ouye, par des sons imitatifs [...]; on s’avisa enfin de lui [au geste] substituer les articulations de la voix, qui, sans avoir le même rapport avec certaines idées, sont plus propres à les représenter toutes, comme signes institués; substitution qui ne put se faire que d’un commun consentement (I, 122; Herv. P.G.)

Die erste Sprache des Menschen ist der Schrei der Natur. Als die Vorstellungen der Menschen sich zu erweitern und zu vermehren begannen und eine engere Kommunikation unter ihnen aufkam, drückten sie die sichtbaren und beweglichen Gegenstände durch Gebärden und diejenigen, die das Gehör wahrnimmt, durch nachahmende Laute aus: schließlich ließ man es sich einfallen, die Gebärde durch die Artikulation der Stimme zu ersetzen, die, ohne die gleiche Beziehung zu bestimmten Vorstellungen zu haben, geeigneter sind, sie als eingeführte Zeichen alle zu repräsentieren: eine Ersetzung, die nur mit allgemeiner Zustimmung geschehen konnte. (Übersetzung nach Geyer (2005)

Trabant (2008: 50) bemerkt dazu, dass im 18. Jahrhundert Rousseau unter Sprache «im Wesentlichen ein kommunikatives soziales Verhalten, also etwas Gesellschaftliches» verstand, während Herder vor allem «Sprache als Erzeugung von Gedanken begriff». Weiter äußert Trabant in diesem Zusammenhang, dass im 18. Jahrhundert die Suche nach dem Sprachursprung nicht ­unter dem Gesetz der Biologie stand, sondern unter dem der Philosophie. Er bemerkt weiter (ebd.: 30): «Im 18. Jahrhundert geht, wie immer sich auch die Geschichten über den Ursprung der Sprache im Detail unterscheiden, Sprache aus dem Schrei hervor: Stille → Schrei → Interjektion → artikulierte Sprache. Die Sprache ist ein Zähmen des Schreis durch Artikulation.» Trabant (2008) weist zudem darauf hin, dass damals die Philosophie die Religion infrage stellte und die philosophische Emanzipation besonders das Verhältnis zu Gott in den Vordergrund stellte und er betont, dass es auch heute um dieselbe Frage geht. «Nur daß Gott jetzt nicht mehr Gott, sondern ‹die Evolution› heißt.» (Trabant, 2008: 51).

Schnell (2005: 37) schlägt bei dem Thema Sprache den Bogen zur Pflege, wenn er die These formuliert: «Dass das Zur-Sprache-Kommen der Pflege damit zusammenhängt, dass die Pflege sich als ein Ort konstituiert hat oder noch dabei ist, sich als ein Ort zu konstituieren, an dem auf das artikulierte Befinden eines Menschen eingegangen werden kann und in Zukunft noch besser eingegangen werden könnte. Eingehen bedeutet: sich dem anderen Menschen zuzuwenden, kommunikativ, ethisch, alltagspraktisch.» Schnell spricht von artikuliertem Befinden eines Menschen und fasst so den Schrei eines Menschen mit Demenz ein. Die Bedeutung der artikulierten Bedürfnisse wird dem Menschen mit Demenz nicht abgesprochen, sondern deutlich unterstrichen. Abt-Zegelin und Schnell (2005: 13) betonen, dass auch Menschen mit Demenz als Gesprächsteilnehmer gelten, wobei die Kommunikation besonderen Bedingungen unterliegt. Sie sagen: «Während kleine Kinder sich in der Phase der Vorsprache hinsichtlich der Artikulation, Bedeutung und Regelhaftigkeit befinden, treten Menschen mit Demenz allmählich in eine Phase nach der Sprache ein, die nicht auf vollen Spracherwerb aus ist, sondern gerade den Abschied von ihm bedeutet.» Sachweh (2008: 135) weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin: «wenn demenziell erkrankte Menschen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium in die Welt ihrer Kindheit regrediert sind oder von sich aus keinen Kontakt mehr zu uns aufnehmen [können], heißt das nicht, dass sie nicht mehr kommunizieren wollen und dass wir sie deshalb ignorieren können».

2.1 Die Bedeutungsebenen von Schreien und Rufen

Schreien und Rufen eines Menschen hat immer eine Bedeutung, weil die Schreie oder Rufe absichtsvoll und zielgerichtet sind und weil sie zum Beispiel Ausdruck von Emotionen sein können. Schreien besitzt sehr vielschichtige, komplexe und ineinandergreifende Ebenen. Wichtig ist jedoch, dass jeder Schrei und jeder Ruf nicht isoliert betrachtet wird, sondern der räumliche und gesellschaftliche Kontext sowie die soziale Lebenswelt der Menschen immer und umfassend Berücksichtigung finden. Die Schreie und die Rufe, die stets eine individuelle Färbung einer Person tragen, sind mehr als unartikulierte und laut ausgestoßene Laute, wie der Duden (1997) es kurz zusammenfasst. Es geht um viel mehr als allein um die Intention der Schreienden oder Rufenden, die den Informationsgehalt ihrer Nachricht auch in weiter Entfernung gehört wissen wollen (Urselmann, 2004).

Buchholz et al. (1983) greifen diese Zusammenhänge auf und fragen provokativ: «Wer schreit denn noch?» Sie stellen diese Frage mit einem Blick auf die «Disziplin der Selbstbeherrschung», die alle Menschen in ihren Sozialisierungsphasen erlernt haben. «Nimm-dich-zusammen», «Schreie nicht so rum», «Verliere nicht die Fassung», «Wer schreit, hat unrecht» sind nur einige plakative Postulate, die unseren Erziehungsprozess begleiten. Es ist eine zu erlernende Disziplin, sich zu beherrschen, sich anzupassen und nicht aufzufallen. Es gibt keine Gesellschaft, in der Schreien oder Rufen die «normale» verbale Kommunikationsebene darstellt. Das muss gelernt werden. Gelernt wird allerdings auch, dass es Ausnahmen gibt. Ein Beispiel ist der Schrei, der ein Bild der Macht und Machtlosigkeit widerspiegeln kann und einzelne Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie betont. Gemeint ist die Situation, in der es einem Vorgesetzten durchaus erlaubt sein kann, den Untergebenen mit pseudojovialen Gesten, wie auf die Schulter klopfen, zu begegnen oder ihn in Konfliktsituationen anzuschreien (Urselmann, 2004). Schreie und Rufe können zur Macht in der Statushierarchie transzendieren, wie Buchholz et al. (1983: 8) an einem anderen Beispiel deutlich machen: «… beschwert man sich bei seiner türkischen Schneiderin darüber, daß sie einen wertvollen Stoff zerschnitten hat, und brüllt sie laut zurück, so wird eine Dimension ihrer Macht spürbar, der wir – die wir den Schrei zu unterdrücken gelernt haben – uns nicht gewachsen fühlen».

Searl (1983: 33) sieht den Schrei bei Säuglingen sogar als «... einzige machtvolle Waffe in jeder Situation des inneren oder äußeren Unbehagens oder der Gefahr». Er sagt weiter: «Die früheste menschliche Reaktion auf Gefahr ist nicht Flucht, sondern ein Schrei.» Säuglinge können nicht nur schreien, sondern sie müssen schreien. Für sie steht der Schrei am Anfang der mensch­lichen Kommunikation. Diese Schreie müssen gehört und verstanden werden, weil indem «die Mutter die jeweils schreiend artikulierte Not oder Wut des Babies versteht, verleiht sie dem Schrei einen zunehmend differenzierten ­Bedeutungsgehalt, der in subtile Ausdrucksformen befriedigend und befriedend übergeht» (Buchholz et al., 1983: 9). Der Säugling kann und muss auf Verständnis und Toleranz der Eltern bauen, weil sein Schrei gehört, befriedigt und befriedet werden muss. Aber auch erwachsene Menschen können mit ihren Schreien oder Rufen durchaus auf Toleranz hoffen. Ein Beispiel ist der körperliche Schmerzschrei oder der kollektive Schrei bei einem Tor eines Fußballspiels. Bis zu einer bestimmten, situativ und kontextuell festgelegten Grenze werden Schreie gesellschaftlich toleriert (Urselmann, 2004).

An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, wie auf die Schreie und Rufe reagiert wird, die auf den ersten Blick völlig sinnlos erscheinen und für die es offenbar keinen Grund gibt. Gemeint ist der Schrei der «Verrückten», deren Geschrei zum bestätigenden Zeichen ihrer «Geistesgestörtheit» wird. Dieses Geschrei wird nicht verstanden, es stört, und diesem Schreien oder Rufen will man sich entziehen. Hierbei wird oft vergessen, dass diese Menschen aufgrund ihrer Erkrankung vielfach in einer anderen, nicht leicht zugänglichen Welt ­leben. Es ist eine Welt, die verrückt ist, verrückt im Sinne von verschoben und nicht leicht erreichbar. Erst wenn es gelingt, Eingang in diese Welt zu finden, erscheinen diese Schreie nicht mehr sinnlos. Den Schrei gilt es also aus seiner ordnenden Alltäglichkeit zu lösen und er gehört nicht an das Ende der verbalen Kommunikation, sondern kann auch den Anfang bilden (Urselmann, 2004). Steppe (1983: 130) sagt in diesem Zusammenhang, als sie zwei Erlebnisse aus ihrer Pflegearbeit im Krankenhaus schildert: «Das Schreien hat weniger Lärm verursacht als viele leise...

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