Abhängigkeitserkrankungen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie

Abhängigkeitserkrankungen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie

von: Egemen Savaskan, Sabrina Laimbacher

Hogrefe AG, 2021

ISBN: 9783456760971

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 3265 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Abhängigkeitserkrankungen im Alter - Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie



|13|1  Neurobiologische Grundlagen der Abhängigkeitserkrankungen


Daniele Zullino, Julius Popp

Das belohnungsassoziierte Lernen über das mesolimbische Verstärkungs- und Belohnungssystem bildet die neurobiologische Grundlage für die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen [1]. Suchtverhalten ist ein erlerntes Verhalten, welches im Rahmen neurobiologischer Forschung auch tierexperimentell erzeugt werden kann. Das belohnungsassoziierte Verhalten wird durch die Substanzeinnahme verstärkt. Das Konsumverhalten wird am Ende vom sogenannten Suchtgedächtnis gesteuert, welches sich in einer veränderungsresistenten Konsumverhaltensbereitschaft äußert. Die Suchtentwicklung besteht in diesem Sinne in einem progressiven Abgleiten von willentlich gesteuerten Verhaltensweisen in Richtung automatisierte und schließlich zwanghafte Verhaltensschemata. Das Suchtverhalten ist folglich dadurch gekennzeichnet, dass dem Konsumverhalten eine dysfunktionale Bedeutung zukommt, kombiniert mit der Abspeicherung von damit assoziierten Hinweisreizen. Letztere vermögen daraufhin Beschaffungsverhalten und Konsum niederschwelliger auszulösen und das auch entgegen bewusstem Entscheiden. Entsprechend wird das Verhalten immer weniger zielgeleitet (z. B. auf eine Substanzwirkung ausgerichtet), hängt zunehmend von Automatismen ab und wird in erster Linie von Hinweisreizen ausgelöst [1, 2, 3, 4].

Zwar entfalten die einzelnen Suchtmittelsubstanzen ihre eigenen spezifischen pharmakologischen Wirkmechanismen, aber eine Erhöhung der Dopaminausschüttung in den für die Verhaltensverstärkung wesentlichen Gehirnarealen ist die gemeinsame Grundlage der neurobiologischen Veränderungen [5, 6]. Hierbei spielen vor allem Projektionen des mesolimbischen Dopamin (DA)-Systems eine wesentliche Rolle. Sie strahlen vom ventralen Tegmentum ausgehend ins ventrale Striatum (Nucleus accumbens) und in den präfrontalen Kortex aus. Dopamin scheint hierbei wesentlich für die Kodierung von erwarteten und tatsächlich eingetretenen Ereignissen zu sein. Die Dopaminausschüttung kommt somit einem Lernsignal gleich, indem es die Bedeutung eines Ereignisses (dessen Salienz) anzeigt. Ein rascher Dopaminanstieg im ventralen Striatum und den anderen beteiligten Hirnarealen nach Substanzkonsum ist für die psychotrope Wirkung hauptsächlich verantwortlich, aber andere Neurotransmitter-Veränderungen, wie z. B. GABA, und andere Hirnareale wie präfrontaler Kortex, Hippocampus und Amygdala tragen zum Gesamteffekt bei.

Neurobiologische Veränderungen, wie sie für substanz-induzierte (pharmakologische) Suchterkrankungen kennzeichnend sind, finden sich in ähnlicher Ausprägung auch im Rahmen von nichtstoffgebundener (= nicht-pharmakologischen) Sucht, wie der Glücksspielsucht (Gambling) und Internet-basierter Suchterkrankungen (z. B. für Pornographie, Gaming, soziale Medien etc.) [7, 8].

Das ventrale Tegmentum (Ventral Tegmental Area/VTA) zeichnet sich unter anderem durch das Vorhandensein dopaminerger Pro|14|jektionsneuronen und GABAergen (und folglich die Projektionsneuronen hemmenden) Interneuronen aus. Aufgrund ihres unterschiedlichen Mechanismus der Dopaminfreisetzung lassen sich hierbei grob drei Klassen von Suchtmittel unterscheiden [9]:

  • Substanzen mit einer hemmenden Wirkung auf die Interneurone und somit einer indirekten Aktivitätssteigerung der DA-Neuronen. Zu dieser Klasse gehören unter anderem Opiate, Tetrahydrocannabinol (THC) und Gammahydroxybutyrat (GHB).

  • Substanzen, welche die DA-Neuronen direkt aktivieren. So aktiviert z. B. Nikotin diese Neuronen über spezifische nikotinische Acetylcholinrezeptoren (nAChR)

  • Monoaminwiederaufnahmehemmer. Kokain, Amphetamine und 3,4-Methylendioxymethamphetamin (Ecstasy) binden an den Dopamintransporter und erhöhen so die synaptischen DA-Konzentrationen. Amphetamine kehren zudem die Richtung des Dopamintransports um, und erhöhen damit die DA-Freisetzung.

Als Folge der Dopamin-Freisetzung lassen sich Veränderungen der Glutamatrezeptoren-Zusammensetzung, und insbesondere eine Veränderung der AMPA-Rezeptoren (α-amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid) beobachten [10]. Diese Rezeptoren bilden neben den NMDA- und Kainat-Rezeptoren eine Untergruppe der Glutamat-Rezeptoren. Vor allem der anhaltende Konsum von Kokain führt zu einer dauerhaften Umverteilung dieser Rezeptoren.

Die Toleranzentwicklung, also die Notwendigkeit einer Dosissteigerung, um die gleiche Wirkung einer Substanz weiterhin erleben zu können, ist wie die Entwicklung der Entzugssymptomatik beim Absetzen der Substanz, weitgehend auf Veränderungen der GABAergen und glutamatergen Neurotransmittersysteme zurückzuführen. Substanzen wie Alkohol und Benzodiazepine aktivieren hemmende GABAerge Rezeptoren und führen beim chronischen Konsum zu einer Reduktion dieser Rezeptoren [11]. Bei chronischem Alkoholkonsum kommt es auch durch die anhaltende hemmende Wirkung des Alkohols auf die NMDA-Rezeptoren zu einer kompensatorischen Zunahme dieser Rezeptoren [12]. Im Rahmen eines Entzugs, wenn die hemmende Wirkung der Substanz wegfällt, kann diese Zunahme zu einer Überreaktion mit schweren Entzugssymptomen führen.

Ein zusätzlicher Mechanismus ist die stress-reduzierende Wirkung einzelner Substanzen. Früh im Leben auftretende Stressfaktoren können, bei entsprechender genetischer Basis, die serotonerge und GABAerge Neurotransmission beeinflussen, und aufgrund von erhöhter Amygdala-Aktivität und gestörter präfrontaler Funktion z. B. zur vermehrtem Alkoholkonsum und Aggressivität führen [13]. Der Substanzkonsum hat hier zu Beginn eine Stressreduktion zur Folge, kann aber bei anhaltendem Störungsbild Stress erhöhen. Bei Abhängigkeitserkrankungen kommt es daher zu einer anhaltenden Stressreaktion infolge vom Kortisol- und ACTH-Anstieg, also der Stimulation der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Diese wiederum kann die Entwicklung von altersassoziierten zerebralen Pathologien und damit verbundenen neurokognitiven und neuropsychiatrischen Störungen beschleunigen [14].

Dass Veränderungen der Neurotransmitter-Systeme zu gesteigertem Suchtverhalten führen, kann auch im Rahmen von neurologischen Erkrankungen beobachtet werden. Die spezifische Rolle des dopaminergen Systems beim Suchtverhalten wird insbesondere im Zusammenhang mit der im Rahmen der medikamentösen Parkinson-Therapie auftretenden Dysregulation offensichtlich. Hierbei kann es bei Patienten unter einer Therapie mit Dopamin-Agonisten zu einer Impulskontrollstörung kommen, welche sich in unterschiedlichsten Suchtverhalten wie z. B. Kaufsucht, Hypersexualität, Hyperphagie und Glücksspielsucht |15|äußern kann [15]. Suchtähnliches Verhalten infolge einer Enthemmungsstörung in Form von Hyperphagie und Hypersexualität kann auch im Zusammenhang mit altersassoziierten neurodegenerativen Veränderungen bei frontotemporaler und Alzheimer-Demenz entstehen, wo insbesondere frontale und temporale Areale betroffen sind. Solche Störungsbilder sind sehr belastend für die Betroffenen und deren Betreuer, und sie sind sehr schwer zu behandeln. Nicht-medikamentöse Therapieoptionen stehen bei diesen Symptomen im Rahmen von Demenzerkrankungen im Vordergrund [16].

Literatur


  1. Hyman SE, Malenka RC, Nestler EJ. Neural mechanisms of addiction: the role of reward-related learning and memory. Annu Rev Neurosci. 2006;29:56598. Crossref

  2. Tiffany ST, Wray JM. The clinical significance of drug craving. Ann N Y Acad Sci. 2012;1248:117....

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