Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA) - Ein Behandlungsmanual zur Krankheitsbewältigung und Attackenprophylaxe bei Migräne

Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA) - Ein Behandlungsmanual zur Krankheitsbewältigung und Attackenprophylaxe bei Migräne

von: Timo Klan, Eva Liesering-Latta

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2020

ISBN: 9783844428513

Sprache: Deutsch

182 Seiten, Download: 11212 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Migränemanagement (MIMA) - Ein Behandlungsmanual zur Krankheitsbewältigung und Attackenprophylaxe bei Migräne



|11|Kapitel 1
Einleitung


Bitte sehen Sie davon ab, Leuten mit Migräne ständig Ratschläge geben zu wollen. Sie haben keine Ahnung, wie mühsam das für uns ist. Sie haben, mit Verlaub, überhaupt keine Ahnung.

Ute Woltron (2016)

Journalistin, Autorin und Migränebetroffene

Die Migräne ist eine sehr häufige Erkrankung, die mit zum Teil erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität und hohen sozioökonomischen Kosten verbunden ist. Weltweit leidet mindestens jeder Zehnte1 an Migräne, man geht derzeit von über einer Milliarde Erkrankten aus (Vos et al., 2017). Frauen sind dabei deutlich häufiger als Männer betroffen, das Verhältnis beträgt 2:1 bis 3:1 (Woldeamanuel & Cowan, 2017; Yoon et al., 2012). Die Prävalenzraten in den Schwellen- und Entwicklungsländern sind ähnlich hoch wie in den Industrienationen (Woldeamanuel & Cowan, 2017), die Migräne ist also keineswegs eine „Luxuserkrankung“.

Kennzeichen der Migräne sind wiederkehrende Attacken von meist einseitigen, mittleren bis starken Kopfschmerzen in Verbindung mit Begleitsymptomen wie z. B. Übelkeit, Erbrechen sowie Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Die Attacken dauern Stunden bis mehrere Tage an. Während der Attacke sind die Betroffenen oft nicht in der Lage, Alltags- oder Freizeitaktivitäten wie gewohnt nachzugehen. Somit ist die Migräne weit mehr als nur eine „vorübergehende Befindlichkeitsstörung“.

Mittlerweile ist sehr viel über die pathophysiologischen Abläufe der Migräneattacke bekannt. Während die Migräne im 19. Jahrhundert, aber auch später noch als psychosomatische bzw. neurotische Störung angesehen wurde, so ist diese inzwischen als neurobiologische Funktionsstörung anerkannt. Gleichwohl spielen neben biologischen auch psychosoziale Faktoren hinsichtlich Krankheitsschwere und -verlauf eine maßgebliche Rolle, sodass ein biopsychosoziales Störungsmodell zugrunde gelegt werden kann.

Migräneartige Kopfschmerzen wurden vermutlich schon von den alten Ägyptern beschrieben, so finden sich bereits in dem Papyrus Ebers (1550 v. Chr.) Hinweise auf einseitige Kopfschmerzen in Verbindung mit Erbrechen (Karenberg & Leitz, 2001). Konkrete Anzeichen einer Migräne einschließlich Symptomen einer Aura wurden erstmals von Hippokrates (ca. 400 v. Chr.) beschrieben (Rapoport & Edmeads, 2000). Der griechische Arzt Galen, der das von Hippokrates entwickelte Konzept des Ungleichgewichts von Körpersäften im 2. Jahrhundert n. Chr. fortführte, kann als Begründer des Begriffs „Migräne“ angesehen werden. So bezeichnete Galen die entweder links- oder rechtsseitig lokalisierten Schmerzen als „hemikrania“ (altgriechisch für „halber Schädel“), was dann später zu der Bezeichnung Migräne wurde (Rapoport & Edmeads, 2000).

Mit der gegenwärtigen Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Headache Classification Committee of the International Headache Society [IHS], 2018) steht ein sehr differenziertes Klassifikationssystem zur Diagnostik von Kopfschmerzerkrankungen einschließlich der Migräne zur Verfügung. In der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10; Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information [DIMDI], 2019) ist die Migräne im Kapitel VI (Krankheiten des Nervensystems) unter der Ziffer G43.- verortet. Beim Vorliegen relevanter psychischer Faktoren, die zur Aufrechterhaltung oder Verstärkung der Migräne beitragen, besteht darüber hinaus die |12|Option, zusätzlich eine Diagnose aus dem Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) der ICD-10 zu stellen. Hierbei bieten sich die Diagnose „Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“ (F45.41) oder „Psychische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten“ (F54) an (Nilges & Rief, 2010). Aus den beiden genannten F-Diagnosen kann die Indikation einer interdisziplinären Behandlung, also letztendlich die Integration eines psychologischen Behandlungskonzeptes abgeleitet werden.

Das Spektrum der im Laufe der Menschheitsgeschichte eingesetzten Behandlungsverfahren bei Migräne ist sehr breit, es finden sich teilweise recht skurrile, aber auch brutale Therapiemethoden wie die unten beschriebene „Trepanation“. Im alten Ägypten wurde als eine von zahlreichen Behandlungsmethoden bei Kopfschmerzen das Einreiben des Kopfes mit der zuvor in Öl gekochten Asche von Schädeln des Katzenfisches empfohlen (Karenberg & Leitz, 2001). Als eine andere Behandlungsmethode aus dem alten Ägypten ist das Anbinden eines geweihten, mit Kräutern gefüllten Tonkrokodils an den Kopf des Patienten überliefert (s. Abb. 1, Rapoport & Edmeads, 2000).

In der Steinzeit, also schon lange vor der Hochkultur der Ägypter, bestand eine praktizierte Behandlungsmethode darin, ein Loch in den Schädel des Patienten zu meißeln (sogenannte „Trepanation“, s. Abb. 2), wahrscheinlich, um dadurch bösen Geistern ein Entweichen zu ermöglichen (Rapoport & Edmeads, 2000). Einige Funde von Schädeln mit Spuren einer Trepanation datieren auf ca. 7000 v. Chr. und Hinweise auf neues Knochenwachstum nach einer Trepanation deuten darauf hin, dass einige der Patienten diese Behandlung sogar überlebt haben (Lillie, 1998).

Es kann selbstverständlich nicht rekonstruiert werden, woran die mit dieser Operationsmethode behandelten Patienten aus der Steinzeit litten. Allerdings weiß man, dass die Trepanation bis Mitte des 17. Jahrhunderts tatsächlich auch zur Behandlung von Migränepatienten angewendet wurde (Rapoport & Edmeads, 2000). Hippokrates, der ein Ungleichgewicht von Körpersäften als Ursache vieler Erkrankungen, auch der Migräne ansah, empfahl als Behandlungsmethode das Vermeiden von Aktivitäten, die Kopfschmerzen auslösen (Rapoport & Edmeads, 2000) – ein Ansatz, der auch heute noch Relevanz hat und nicht selten empfohlen wird. Es erscheint zunächst sehr plausibel, kopfschmerzauslösende Aktivitäten zu vermeiden („Vermeide das, was dir nicht guttut.“). Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren diesbezüglich ein Paradigmenwechsel ab (Dresler, Klan, Kraya & Kropp, 2019). Potentielle Kopfschmerzauslöser (sog. „Trigger“) wie z. B. „Stress“, „Wetterwechsel“ oder das Einsetzen der Menstruation, können nicht immer vermieden werden. Außerdem kann der Versuch, Trigger stets zu vermeiden selbst zum Stressfaktor werden und den eigenen Handlungsspielraum auf Kosten der Lebensqualität einschränken. Hiervon ausgehend wird inzwischen statt genereller Vermeidung ein Triggermanagement, also ein individueller und differenzierter Umgang mit Triggern empfohlen (Martin & MacLeod, 2009; Martin et al., 2014). Neben dem Erlernen eines optimalen Umgangs mit Triggern können noch weitere sinnvolle verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze bei Migräne genannt werden (Andrasik, 2007; Fritsche & Gaul, 2013): (1) Entspannungsverfahren (z. B. Progressive |13|Muskelrelaxation, Biofeedback) zur Induktion einer allgemeinen psychovegetativen Entspannung, (2) Biofeedback zur Kontrolle unmittelbar kopfschmerzrelevanter Parameter (z. B. Neurofeedback zur Verbesserung der kortikalen Habituation), (3) kognitive Verhaltenstherapie zur Verbesserung der Stressbewältigung (Stressmanagement), (4) Lebensstilberatung und (5) migränespezifische Techniken (z. B. Umgang mit Attackenangst). Grundsätzlich kann verhaltenstherapeutischen Ansätzen eine gute Evidenz in der Migräneprophylaxe attestiert werden (z. B. Penzien, Irby, Smitherman, Rains & Houle, 2015; Kropp et al., 2016). Jedoch ist noch nicht klar, welches der beschriebenen verhaltenstherapeutischen Verfahren bei welchem Patienten am besten wirkt bzw. zu welchem Patienten passt. Jedes der genannten Verfahren hat seine Vor- und Nachteile. Biofeedback hat sich als sehr wirksam erwiesen (Nestoriuc & Martin, 2007), erfordert jedoch eine gewisse Affinität für technisches Equipment – sowohl beim Patienten als auch beim Therapeuten. Auch das Triggermanagement hat sich als vielversprechender Ansatz erwiesen (Martin et al., 2014). Allerdings gibt es Patienten, die nur wenige oder...

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