Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen - Praxisbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe

Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen - Praxisbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe

von: Bo Hejlskov Elvén, Lomma Hejlskov Elvén, Sophie Abild McFarlane

Hogrefe AG, 2020

ISBN: 9783456760001

Sprache: Deutsch

152 Seiten, Download: 16249 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit psychischen Störungen - Praxisbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe



|13|Einleitung


Schreckhaft, verstört, gefährlich?


Warum die Arbeit mit Psychiatriepatienten so herausfordernd sein kann und wie wir damit zurechtkommen

Meine Tochter und ich haben dieses Buch gemeinsam geschrieben. Ich bin Psychologe und bereits seit vielen Jahren als Privatdozent und Pädagoge in der Behindertenhilfe und Psychiatrie tätig. Meine Tochter befindet seit nunmehr zehn Jahren in psychiatrischer Behandlung, die mit ihrem 17. Lebensjahr begann. In diesem Buch haben wir uns vorgenommen, herausforderndes Verhalten sowohl aus der Betroffenen- als auch aus der Beschäftigtenperspektive zu beleuchten. Zwar haben wir die Psychiatrie aus einem jeweils anderen Blickwinkel erlebt, jedoch hinderte uns das nicht, unsere unterschiedlichen Eindrücke zusammenzuführen, was nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken ist, dass wir Vater und Tochter sind.

In meiner Arbeit beschäftige ich mich in erster Linie mit behinderten Menschen, führe Untersuchungen durch und leite Personalschulungen. Mit der stationären Psychiatrie bin ich erstmals als Angehöriger eines Betroffenen in Berührung gekommen.

Es war nicht immer eine angenehme Erfahrung, die Entwicklung meiner Tochter als Außenstehender mitzuerleben. Diese Erfahrung hat mich jedoch umso mehr davon überzeugt, dass wir die Arbeitsmethoden der Psychiatrie weiter entwickeln müssen. Seitdem arbeite ich in der Psychiatrie mit folgendem Ziel: Wir müssen besser darin werden, uns um diejenigen Menschen zu kümmern, die unsere Fürsorge am meisten brauchen.

Wenn ich Beschäftigte in psychiatrischen Einrichtungen unterrichte und ausbilde, bekomme ich häufig die unterschiedlichsten Geschichten zu hören. Darin geht es oft um Patienten, die laut werden, andere bedrohen, handgreiflich werden oder sich selbst verletzen. Aber ich höre auch von Praktiken, wie Patienten in ihr Zimmer zu schicken, zu isolieren, mechanisch zu fixieren oder ihnen Bedarfsmedikamente zu verabreichen. Oft ist der Fokus darauf gerichtet, was der Patient |14|eigentlich tun sollte und was das Personal unternimmt, damit die Patienten ruhig bleiben.

Beschäftigte in der Psychiatrie berichten außerdem häufig davon, dass sie sich machtlos fühlen, wenn Patienten verhaltensauffällig werden. Psychiatriepatienten erzählen ihrerseits von Mitarbeitern, die ihre Stimme erheben und strikten Gehorsam fordern, und von der Unzufriedenheit, nicht über sich selbst bestimmen zu können, – sowie von ihrem Gefühl der Machtlosigkeit. Bei der Zusammenarbeit mit psychiatrischen Einrichtungen habe ich mir im Laufe der Jahre angewöhnt, gezielt nach diesem Gefühl der Machtlosigkeit zu suchen, da es destruktiver ist als jedes andere Gefühl, ganz gleich ob es Mitarbeiter, Patienten oder Angehörige betrifft.

Aus der Betroffenenperspektive ist es leicht verständlich, dass Machtlosigkeit verheerend ist. Als Psychiatriepatient hat man keine Kontrolle über sein Leben und man fühlt sich sowohl dem Personal als auch der eigenen Krankheit ausgeliefert. Das eigene Leben fühlt sich etwa so an, als würde man einen reißenden Fluss hinabgetrieben, kreuz und quer gegen Felsen geworfen und manchmal unter Wasser gedrückt. Machtlosigkeit ist aber auch für die Beschäftigten verheerend. Mitarbeiter, die sich hilflos fühlen, sind häufig streitlustig und begegnen Patienten mit hohen Ansprüchen. Wir als Mitarbeiter reagieren dann z. B. zynisch und resigniert. Und manchmal werden wir so hilflos, dass wir genau die Patienten meiden, um die wir uns eigentlich kümmern sollten.

Wenn aber das ganze System von Machtlosigkeit betroffen ist – wenn sich sowohl das Personal als auch die Patienten machtlos fühlen –, dann handelt es sich um die wohl verheerendste Form der Machtlosigkeit. Anstatt das Problem der Machtlosigkeit gemeinsam anzugehen, kämpfen Personal und Patienten immer erbitterter gegeneinander an. Oft ist die Atmosphäre von gegenseitigem Misstrauen gekennzeichnet. In solchen Situationen greifen Beschäftigte und Patienten zu Verhaltensweisen und Methoden, die nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Das ist die extremste Konsequenz von Machtlosigkeit.

Die Hauptaufgabe der Psychiatrie

Die Aufgabe der Psychiatrie liegt in der Diagnostik und Therapie. Da herausforderndes Verhalten aber den Arbeitsablauf stört, sollte der Umgang mit herausforderndem Verhalten möglichst unkompliziert und reibungslos verlaufen, damit sich die Psychiatrie auf ihre eigentliche Tätigkeit konzentrieren kann. Sie besteht allerdings nicht darin, Betroffene zu korrektem Verhalten anzuleiten und sie dahingehend zu therapieren. Vielmehr geht es um Bewältigung und Vorbeugung un|15|günstiger Verhaltensweisen, die den Betroffenen in seiner Entwicklung behindern können, wieder in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Bestenfalls geschieht das mithilfe von Methoden, die möglichst wenig Raum, Zeit und Energie beanspruchen. Deshalb liegt es nicht beim Betroffenen, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Vielmehr ist es die Aufgabe der Psychiatrie, Rahmenbedingungen zu schaffen, die dem Patienten gutes Verhalten ermöglichen, sodass die Psychiatrie ihrer behandelnden Tätigkeit gerecht werden kann.

Ziel dieses Buches

Dieses Buch ist ein Versuch, den in der Psychiatrie herrschenden, äußerst unglückseligen Mangel an Wissen über herausforderndes Verhalten zu beheben. Deshalb soll der erfolgreiche, professionelle und evidenzbasierte Umgang mit herausforderndem Verhalten beleuchtet werden. Durch die Auseinandersetzung mit Ansätzen und Methoden wird es uns möglich sein, den Alltag in psychiatrischen Kliniken wie in der ambulanten und sozialpsychiatrischen Versorgung deutlich positiver zu gestalten.

In diesem Buch geht es darum, wie wir uns als Beschäftigte gegenüber Betroffenen verhalten können, damit sie nach der Behandlung ihr Leben wieder selbstbestimmt und selbstverantwortlich bewältigen können. Das Buch richtet sich in erster Linie an Klinikpersonal und Beschäftigte des sozialpsychiatrischen Dienstes, jedoch können auch Mitarbeiter der ambulanten Versorgung von den Methoden und dem Menschenbild davon profitieren. Der Schwerpunkt liegt auf dem Umgang mit herausforderndem Verhalten – und nicht auf der Behandlung –, weshalb es insbesondere für Mitarbeiter hilfreich ist, die in größerem Umfang bzw. nicht nur im therapeutischen Rahmen mit Patienten arbeiten.

In diesem Buch werden keine Diagnosen genannt. Das ist beabsichtigt. Diagnosen sind zwar wichtig für die Behandlung und die Prognose einer Krankheit, jedoch spielen sie keine Rolle, wenn jemand handgreiflich wird oder randaliert.

Der Aufbau dieses Buches

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Der erste Teil besteht aus 11 Kapiteln, die jeweils ein Prinzip vorstellen und erläutern. Ein Prinzip lässt sich als ein Grundsatz definieren, nach dem man handeln sollte. Das erste Kapitel beruht beispielsweise auf dem Grundsatz „Prüfen Sie zuerst immer, wer tatsächlich ein Problem hat“.

Diese Prinzipien sind Bestandteil des Low-Arousal-Approach und basieren auf wissenschaftlicher Forschung zum Umgang mit herausforderndem Verhalten. Ich |16|bin zuversichtlich, dass diese Prinzipien ausreichen, um eine gewisse Offenheit zu schaffen und neue Denk- und Verhaltensmuster zu erproben. Wer den Mut dazu hat, wird in der Regel mit Erfolgen und guten Ergebnissen belohnt. Allerdings verlangt das von Ihnen als Leser eine gewisse Offenheit und Flexibilität.

Jedes Prinzip wird mit einer Alltagssituation (bzw. mit einem Fallbeispiel) illustriert. Die geschilderten Situationen hat die Co-Autorin, meine Tochter Sophie, als Patientin auf Psychiatriestationen und in psychiatrischen Wohnheimen selbst erlebt. Gestatten Sie, dass sich Sophie vorstellt.

Sophie

„Die oben beschriebene Situation, in der sich die Mitarbeiter wie auch die Betroffenen machtlos fühlen und es zu Gewalt und Auseinandersetzungen kommt, habe ich, Sophie, aus erster Hand erlebt. Mehr als zehn Jahre, von meinem 17. Lebensjahr an, war ich in stationärer und ambulanter Behandlung, wurde sozialpsychiatrisch betreut und wohnte in psychiatrischen Wohnheimen. Mein Beitrag zu diesem Buch sind die Fallbeispiele, die den Ausgangspunkt für jedes Kapitel bilden. Die Beispiele beschreiben Situationen, die ich oder...

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