Menschen mit Demenz - Ein interdisziplinäres Praxisbuch: Pflege, Betreuung, Anleitung von Angehörigen

Menschen mit Demenz - Ein interdisziplinäres Praxisbuch: Pflege, Betreuung, Anleitung von Angehörigen

von: Michael Schilder, H. Elisabeth Philipp-Metzen

Kohlhammer Verlag, 2018

ISBN: 9783170257481

Sprache: Deutsch

264 Seiten, Download: 4404 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Menschen mit Demenz - Ein interdisziplinäres Praxisbuch: Pflege, Betreuung, Anleitung von Angehörigen



3          Grundlagen der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz


 

3.1       Pflegetheoretische Basis


In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die biomedizinische Sichtweise von Demenz um sozialpsychologische Ansätze und Theorien erweitert worden (van der Kooij 2007; Kitwood 2013; Brooker 2008; Sanderson & Bailey 2015). Wegweisend war die Bewegung, die sich in Großbritannien mit dem Ansatz der person-zentrierten Pflege (PCC) des britischen Theologen und Sozialpsychologen Tom Kitwood (2013) und seinem Team an der University of Bradford als mittlerweile neues Paradigma im Verständnis der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz etabliert und weiterentwickelt hat (Güther 2013; Innes 2014; Wißmann 2015).

3.1.1     Die person-zentrierte Pflege nach Kitwood (2013)


Den Ausgangspunkt des in den 90er Jahren entstandenen Konzepts der person-zentrierten Pflege (person-centred Care bzw. PCC) bildeten Praxisbeobachtungen, dass die an Demenz erkrankten Menschen von Fachpersonen nicht mehr als individuelle Personen behandelt wurden ( Kap. 5.2). Demgegenüber zielt PCC als »humanistisches Ideal« (Güther 2013, S. 277) darauf, Menschen »mit Demenz in ihrem vollen Menschsein anzuerkennen« (Kitwood 2013, S. 30) und sie damit in ihrer »Selbstbestimmung gegenüber autoritärem Expertentum« zu stärken (Güther 2013, S. 277).

Neue Pflegekultur

Kitwood (2013) zufolge handelt es sich um eine ›neue Pflegekultur‹ in Abgrenzung zu dem bis dahin vorherrschenden biomedizinischen Standardparadigma. Sie bietet eine Alternative zu dem im medizinisch-biologischen Paradigma verankerten einseitigen und unvollständigen Verständnis von Demenz, etwa im Hinblick auf den Verfall und den Niedergang des Selbst (Innes 2014). Da der Mensch mit und in seinem Erleben der Demenz im biomedizinischen Paradigma nicht wahrgenommen wird und hinter einem vereinheitlichenden Krankheitsetikett verschwindet, betont PCC, dass Menschen mit Demenz eben nicht auf ihre Krankheit reduziert und mit dieser gleichzusetzen sind.

Dieses Verständnis bringt Kitwood (2013, S. 30) auf den Punkt: im sozialpsychologischen Verständnis geht es eben nicht um die »Person-mit-DEMENZ«, sondern um die »PERSON-mit-Demenz«, weil die mit dem Krankheitslabel beschriebenen neurologischen Beeinträchtigungen nicht die alleinbestimmenden Merkmale der Befindlichkeit des Menschen sind.

Die Person kann also nicht mit ihrer neurologischen Beeinträchtigung gleichgesetzt werden, weil sie eine besondere Persönlichkeit hat, die sich im Verlauf ihres Lebens (weiter)entwickelt. So gilt es, diese psychische Dimension unter Berücksichtigung auch des körperlichen Gesundheitszustands in den Blick zu nehmen, da sie das Erleben und die Bewältigung der Lebenssituation mit Demenz beeinflusst.

Einfluss des sozialen Umfelds

Entscheidend an der sozialpsychologischen Perspektive ist, dass auch das soziale Umfeld, wie Angehörige oder fachlich Pflegende, Einfluss auf die Gesamtkonstitution der Person mit Demenz nimmt (Innes 2014; Kitwood 2013, Brooker 2008).

Im positiven Sinne können die Auswirkungen der neurologischen Beeinträchtigung abgemildert werden und der Mensch trotz Demenz in seinem Personsein unterstützt werden. Negativ gewendet wird jedoch das Personsein des Menschen mit Demenz durch ein nachlässiges und gedankenloses Verhalten im sozialen Umfeld untergraben, was die Beeinträchtigung sogar vergrößern kann (Kitwood 2013; Brooker 2008, Sanderson & Bailey 2015).

Alte Pflegekultur

Diese Praxis der ›alten Pflegekultur‹ wird von Kitwood (2013) als »maligne, bösartige Sozialpsychologie (MSP)« bezeichnet, der mit der PCC die »benigne Sozialpsychologie« gegenübergestellt wird (Riesner 2012a; Güther 2013). Der Grundgedanke von Kitwoods sozialpsychologischen Ansatz, der auch als »angereichertes Modell der Demenz« bezeichnet wird (Brooker 2008, S. 22), ist, dass

Biopsychosoziale Perspektive

»Demenz als eine Befindlichkeit [gesehen wird], die von einer biologischen, einer psychologischen und einer soziologischen (biopsychosozialen) Perspektive betrachtet werden muss. Er akzentuiert die Erkenntnis, dass das Zusammenspiel all dieser Perspektiven bestimmt, wie eine Person jene Befindlichkeit mit dem Namen Demenz erlebt.«

Als Konsequenz daraus sind also weitaus mehr Dimensionen in den Blick zu nehmen als die medizinische Diagnose, da sich die komplexen Lebens- und Pflegesituationen von Menschen mit Demenz nicht allein auf die Krankheit reduzieren lassen.

Kitwoods Demenzverständnis basiert auf der Vorstellung von Demenz als Produkt sowohl neurologischer (wie Beeinträchtigung des Gedächtnisses, Denkens, Verstehens) als auch sozialpsychologischer Veränderungen. Demenz wird von den davon betroffenen Menschen im Rahmen der sich hieraus ergebenden Gegensätzlichkeit sehr unterschiedlich erlebt.

In Kitwoods Grundauffassung sollten Menschen nicht pathologisch reduziert verstanden und behandelt werden, da sie trotz ihrer Neuropathologie mittels ihrer einzigartigen Persönlichkeit und Biografie sowie auch innerhalb ihrer sozialen, individuellen Umwelt und in Auseinandersetzung mit ihrem körperlichen Gesundheitszustand einen eigenen Stil im Umgang mit den neurologischen Veränderungen entwickeln (Kitwood 2013; Brooker 2008; Riesner 2012a).

Erhaltung und Stärkung des Personseins

Aus dieser Perspektive betrachtet, verlieren Menschen ihr Personsein nicht zwangsläufig aufgrund ihrer Demenz, sondern es wird lediglich »verschleiert« (Güther 2013). Die person-zentrierte Pflege als fähigkeits- und ressourcenorientierter Ansatz zielt auf die Erhaltung und Stärkung des Personseins, indem sie auf die Erfüllung der Bedürfnisse der Menschen mit Demenz bezogen ist (Kitwood 2013; Brooker 2008; Riesner 2012a).

Für die Gestaltung des Umgangs mit einer Person mit Demenz hingegen ist das sozialpsychologische Umfeld von entscheidender Bedeutung (Riesner 2012a), indem Pflegende die Beziehung zu Personen mit Demenz im Sinne einer »Ich-Du-Beziehung« (Buber) aktiv gestalten und diese nach Möglichkeit zur Mitwirkung an der Bewältigung der Pflegesituation befähigen (Kitwood 2013; Güther 2013).

Wesentliche Komponenten von Kitwoods Konzept sind in der Tabelle 3.1 abgebildet.

Tab. 3.1: Ausgewählte Komponenten des PCC-Konzepts von Kitwood (2013) (in Anlehnung an Brooker 2008; Kitwood 2013; Innes 2014; Riesner 2012a; Sanderson & Bailey 2015)

PCC als beständig über eine lange Zeit hinweg angewendete Strategie verfolgt die Absicht, sich mittels Personsein-betonender Strategien (PAP) auf die Bedürfnisse des Menschen mit Demenz zu beziehen, um dessen Personsein nach Möglichkeit zu erhalten oder zu stärken und »dabei die Folgen der neurologischen Beeinträchtigung auszugleichen« (Kitwood 2013, S. 103; 234–236).

Kritik

Ein Kritikpunkt an der PCC ist, dass hiermit ein hohes Pflegeideal beschrieben wird, ohne jedoch die zur Umsetzung erforderlichen Rahmenbedingungen und konkreten Anwendungsschritte hinreichend zu veranschaulichen. Daraus resultiert die Gefahr der Überforderung der Pflegepraxis (Dibelius 2013; Innes 2014).

Nichtsdestotrotz helfen Ideale wie PCC, »der Praxis Orientierung zu geben, sie bereiten die Bühne vor für das, was die Gesellschaft entschieden hat« (Innes 2014, S. 67). Schäufele (2012) weist auf die zunehmende Evidenz über die Wirksamkeit individualisierter, bedürfnis- bzw. personenzentrierter Pflege in spezialisierten Demenzwohngruppen auf Aspekte der Lebensqualität von Menschen mit Demenz hin. Doch sind auch kritische Stimmen hinsichtlich der Forschungslage zu vernehmen (vgl. die Kontroverse zu PCC im Abschnitt Biografiearbeit,  Kap. 5).

3.1.2     Das VIPS-Modell nach Brooker (2008)


Dawn Brooker (2008) nimmt Kitwoods Ansatz im Sinne des »angereicherten Modells der Demenz« auf. Ihr Fokus liegt auf der Ausarbeitung der Anwendung und Umsetzung der PCC in der Pflegeorganisation. Aufbauend auf Kitwood stellt Brooker (2008, S. 52) das »angereicherte Modell der Demenz« mittels der folgenden Gleichung dar:

Demenz = NB + GV + LE + PS + SP

Die Situation des von Demenz betroffenen Menschen ist durch dessen individuelle neurologische Beeinträchtigung (NB), gesundheitliche Verfassung (GV), einzigartige Lebensgeschichte (LE) und Persönlichkeit (PS) sowie sozialpsychologischen Aspekten (SP) der momentanen Lebenssituation beeinflusst.

Brooker (2008 in...

Kategorien

Service

Info/Kontakt