Pflegewissenschaft 1. - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Pflegewissenschaft

Pflegewissenschaft 1. - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Pflegewissenschaft

von: Hermann Brandenburg, Stephan Dorschner, Gerd Bekel, Volker Fenchel, Reinhard Lay

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456941615

Sprache: Deutsch

265 Seiten, Download: 2442 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Pflegewissenschaft 1. - Lehr- und Arbeitsbuch zur Einführung in die Pflegewissenschaft



Beobachten Sie einmal einen ganzen Tag lang ganz bewusst, wo Ihnen überall im Beruf und während der Freizeit, in der Familie und in den Medien Wissenschaft und Wissenschaftler/-innen begegnen. Notieren Sie am Ende des Tages Ihre Beobachtungen und versuchen Sie eine Bewertung.

Auch in den aktuellen Fachdiskussionen der Pflege wird häufig die Notwendigkeit von Wissenschaft und wissenschaftlichen Methoden, etwa zur Überprüfung der Pflegepraxis betont. Derjenige, der nachweisen kann, dass ein bestimmtes Verfahren oder eine spezifische Methode der pflegerischen Intervention besser als andere ist, scheint besondere Aufmerksamkeit zu genießen. Glaubt man aktuellen Stellungnahmen bekannter Pflegewissenschaftler/-innen in Deutschland, dann sieht es so aus, als würde traditionelles Pflegewissen immer stärker in den Hintergrund gedrängt und wissenschaftliches Wissen zum entscheidenden Legitimationskriterium für die Pflegepraxis werden. Die gegenwärtige Diskussion zeigt sehr deutlich, dass bestimmte Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche mit dem Einzug der Wissenschaft in die Pflege verbunden sind. Konkret beziehen sich diese Erwartungen darauf, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse die Pflegepraxis zu verbessern, die berufspolitische Stellung und Anerkennung der Pflegenden zu erhöhen und letztlich den Einfluss und die Macht der Pflege in gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen zu vergrößern.

Allerdings sind das recht hohe Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Wissenschaft, bei denen man zu Recht skeptisch werden sollte. Diese Skepsis wird gestützt durch Entwicklungen in der modernen Wissenschaftstheorie, bei der zunehmend die Grenzen wissenschaftlicher Aussagen und Erklärungen akzeptiert werden. Die (naive) Vorstellung, dass man in der Wissenschaft sichere Erkenntnisse über die Wirklichkeit durch Beobachtung oder Experiment gewinnen könnte, ist schon lange widerlegt worden. Wissenschaftstheoretiker gehen heute davon aus, dass jede Beobachtung bereits durch theoretische Vorannahmen «imprägniert», d.h. theorie geleitet ist (Popper, 1995a, b, 1996). Weiterhin wird die Auffassung vertreten, dass die Wirklichkeit nicht nur «seinsmäßig» (ontologisch) gegeben, sondern auch sozial konstruiert wird (Mead, 1995). Die Erkenntnis wächst, dass es keine Methode gibt, die es ermöglicht, eine wissenschaftliche Theorie endgültig als wahr nachzuweisen, weil es keine richtigen oder falschen Methoden gibt, sondern nur methodische Zugänge, die dem Gegenstandsbereich eher oder weniger angemessen sind (Bortz/Döring, 1995). Zur Irritation vieler Wissenschaftler hat sich gezeigt, dass es gerade nicht die von ihnen favorisierten Methoden und Theorien waren, die in der Wissenschaftsgeschichte als entscheidende Fortschritte betrachtet wurden. An den Entdeckungen von Galilei, Newton, Darwin oder Einstein zeigt sich, dass es häufig unkonventionelle Methoden und zum damaligen Zeitpunkt unbewiesene Theorien waren, die entscheidend den wissenschaftlichen Fortschritt vorangetrieben haben (Chalmers, 1994).

Es ist also notwendig, ein kritisches Verhältnis gegenüber der Wissenschaft und dem, was sie leisten kann, zu entwickeln, um Möglichkeiten und Grenzen richtig einzuschätzen. Im Rahmen dieser Einführung kann nur ansatzweise auf grundlegende Kritik an der Wissenschaft eingegangen werden. Bedenken Sie auch, dass im Folgenden nur eine bestimmte geschichtliche Gestalt von Wissenschaft, die europäisch-neuzeitliche, zur Darstellung kommt. Dies ist weder die einzig existierende, noch die endgültige Form von Wissenschaft. Es kann allerdings kaum ernsthaft bestritten werden, dass sie die folgenreichste der bisher aufgetretenen Wissenschaftsformen ist und andere verdrängt hat.

Studienaufgabe 1-2

Tragen Sie – bevor Sie weiterlesen – aus verschiedenen Lexika bzw. Nachschlagewerken Definitionen der Begriffe «Wissenschaft» und «Forschung» zusammen. Analysieren Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Definitionen.

Diesem Kapitel vorangestellt sind vier Begriffserklärungen für Wissenschaft, die Sie bei der Bearbeitung der Studienaufgabe 1-2 auch gefunden haben könnten: In diesen Definitionen wird auf ganz unterschiedliche Art und Weise versucht, den Gegenstand und die Aufgaben von Wissenschaft zu umreißen. Der Fokus kann beispielsweise auf Forschung gelegt werden. Dann stehen methodische Aspekte, etwa im Hinblick auf Erhebung und Auswertung von Daten im Vordergrund. Oder der Akzent liegt auf einer Lebensund Weltorientierung durch Wissenschaft. Hier wird eher auf individuelle und gesellschaftliche Konsequenzen abgehoben. Lassen sich – trotz dieser Unterschiede – Grundzüge von Wissenschaftlichkeit bestimmen?

Peter Janich (1992) hat dazu einen interessanten Vorschlag unterbreitet. Er diskutiert zunächst einige Aspekte, die für eine solche Bestimmung ausscheiden:

• SicherheitoderVerlässlichkeit:Dieskannallein deswegen kein gültiges Kriterium sein, weil normalerweise jeder Mensch bestimmte sichere und verlässliche Wissensbestände hat, die jedoch nicht wissenschaftsfähig sind; etwa das Wissen, wie man heißt oder wo man geboren ist.
• Nützlichkeit und Brauchbarkeit: Hier kann man sich leicht an Alltagsbeispielen (z.B. Kenntnisse über die eigene Wohnung, Umgang mit technischen Hilfsmitteln etc.) deutlich machen, dass auch dieses Merkmal nicht ausreicht.
• Erfahrung: Da wird es schon etwas komplizierter. Aber unzweifelhaft gilt die Mathematik als Wissenschaft, beruht jedoch nicht auf Erfahrung, denn 2 + 2 = 4 – unabhängig von unserer Erfahrung.
• Mehrheitsverhältnisse: Auch hier stoßen wir an Grenzen, denn über richtige und falsche Aussagen entscheiden Wissen und Argumente – und nicht Minderoder Mehrheiten.

Wissenschaft ist eine «Bezeichnung für eine Lebensund Weltorientierung, die auf eine spezielle, meist berufsmäßig ausgeübte Begründungspraxis angewiesen ist und insofern über das jedermann verfügbare Alltagswissen hinausgeht, ferner die Tätigkeit, die das wissenschaftliche Wissen produziert. Wissenschaft heißt auch jede aus der Wissenschaft im genannten Sinne ausdifferenzierte Teilpraxis, sofern diese durch einen bestimmten Phänomenoder Problembereich definiert ist» (Enzyklopädie Philosophie, 1996, Band 4, 719). Wissenschaft ist zu verstehen als «Inbegriff menschlichen Wissens einer Epoche, das systematisch gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird; eine Gesamtheit von Erkenntnissen, die sich auf einen Gegenstandsbereich beziehen und in einem Begründungszusammenhang stehen. Auf einen begrenzten Gegenstand bezogenes Wissen kennzeichnet die Einzel-Wissenschaften, die ihrerseits in einen theoretischen und einen angewandten Bereich gegliedert sind und mit fortschreitender Differenzierung eine Reihe von Teildisziplinen hervorbringen können ...» (Brockhaus, 1994, Band 24).

An dieser Stelle wird der eine oder andere Leser möglicherweise schon irritiert sein. Versuchen wir diese Irritation aufzulösen, indem wir unseren Ausgangspunkt bestimmen. Wir kommen mit einer Beschreibung historisch vorfindbarer Wissenschaften bzw. wissenschaftlicher Ansätze nicht weiter. Denn es ist klar, dass höchst verschiedene Praxen, Bedürfnisse, Einstellungen etc. gegeben sind, die sich z.T. widersprechen und wenig gemeinsam haben. Wir kommen in unserem Fragen weiter, wenn wir davon ausgehen, dass Wissenschaft von bestimmten Entscheidungen und damit von Zwecken und Zielen abhängig ist. Wir müssen also fragen: Wie sollen Wissenschaften betrieben werden, damit sie das Prädikat «Wissenschaftlichkeit» erhalten? Janich (1992) nennt als wichtigste Bedingungen:

• Sprachlich explizite Darstellung der wissenschaftlichen Ergebnisse;
• Unterscheidung von wahren und falschen, begründeten und unbegründeten Aussagen;
• Allgemeingültigkeit, Verstehbarkeit, systematische Ordnung der Wissensbestände;
• Transsubjektivität, d.h. die Überwindung der Subjektivität, also der Bezug auf die Einzelperson;
• Nachvollziehbarkeit und (empirische) Überprüfbarkeit der Geltung von wissenschaftlichen Aussagen.

Wir können also festhalten, dass Wissenschaft – in der Differenz zum Alltagswissen, das durch unmittelbare Erfahrung und persönliche Ansichten, Vorlieben und unbegründete Vermutungen gekennzeichnet ist – offensichtlich als eine bestimmte Praxis menschlichen Denkens und Handelns charakterisiert werden kann, bei der es um die intersubjektive Prüfung von Aussagen, Theorien und Befunden geht, die mit Hilfe von Methoden gewonnen wurden. Bei wissenschaftlichen Aussagen handelt es sich letztlich um begründete, systematische und an rationalen Kriterien orientierte Sätze, die einen Wahrheitsanspruch beinhalten. Dabei geht es nie um endgültige Beweise oder ewige Wahrheiten, sondern immer nur um vorläufige Aussagen über Tatsachen und Zusammenhänge in der Wirklichkeit. Absolute Sicherheit kann dabei nicht garantiert werden, allerdings der Ausschluss eines rationalen, d.h. durch Vernunft begründeten, Zweifels.

Der unvernünftige Zweifel an wissenschaftlichen Aussagen bleibt bestehen.

Wenn wir jetzt noch einen Schritt weitergehen und nicht nur nach den Grundzügen, sondern nach den Prüfkriterien für wissenschaftliche Aussagen (auch als Testgütekriterien bezeichnet) fragen, dann sind wir bereits mitten in einer wissenschaftlichen Diskussion. Wissenschaftliche Aussagen sollen – zumindest dem Anspruch nach – objektiv, zuverlässig und überprüfbar sein. Diese Kriterien werden traditionell der quantitativen Methodologie zugeordnet, d.h. im engeren Sinne auf die Testgütekriterien. In der qualitativen Forschung werden ebenfalls – z.T. verwandte – Merkmale für die Vertrauenswürdigkeit von Studien diskutiert. Diese Position ist jedoch umstritten, eher werden von qualitativen Forschern Vorschläge zur Reformulierung klassischer Kriterien (z.B. Kommunikative Validierung) oder zur Formulierung alternativer, methodenangemessener Kriterien (z.B. Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit) diskutiert (Flick, 2002). An dieser Stelle können wir nicht in die Details dieser Kontroverse gehen, sondern konzentrieren uns zunächst auf die «klassischen» Gütekriterien (vgl. z.B. Holloway/ Wheeler, 1997):

1. Objektivität bezieht sich darauf, dass die Anlage, Durchführung und Auswertung von einer Studie unabhängig von der Person des Forschers selbst sein sollen. Es ist natürlich klar, dass der Forscher bzw. die Forscherin bei der Auswahl der Forschungsfrage, der Erhebung der Daten und der Entscheidung für eine bestimmte Auswertungsmethode ständig Entscheidungen treffen muss. Aber die Ergebnisse der Forschung sollten weitgehend frei von eigenen subjektiven Meinungen, Erwägungen, Interpretationen etc. sein.

2. Gültigkeit (Validität) beinhaltet die Übereinstimmung von Ergebnissen mit dem durch die Untersuchung vorgegebenen theoretisch-begrifflich zu erfassenden Sachverhalt und kennzeichnet das Ausmaß, in dem die eingesetzten Messinstrumente tatsächlich das messen, was sie messen sollen. Dies bedeutet, dass ein Fragebogen zur Arbeitsbelastung in der Tat auch die Arbeitsbelastung erfasst (misst) und nicht etwa verwandte, jedoch substanziell andere Phänomene, wie Zufriedenheit oder Motivation.

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