Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim

Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim

von: Katharina Maria Röse

Hogrefe AG, 2017

ISBN: 9783456754703

Sprache: Deutsch

417 Seiten, Download: 3329 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim



1 Einleitung


Welche Formen von Betätigung entfalten Menschen mit Demenz, die die kleinen und großen Tätigkeiten des Alltags nicht mehr überblicken können, die vergessen, wie man sich anzieht, sich wäscht, sich etwas zu essen kocht, einkaufen geht, die Lieblingsbetätigung ausführt oder den Weg nach Hause findet, die aus ihrem gewohnten Umfeld in ein Pflegeheim umgezogen sind und dort professionelle Hilfe in Anspruch nehmen? Welche Muster der Betätigung zeigen Menschen mit Demenz, welche Routinen entwickeln sie in ihrem Alltag unter den Bedingungen des zunehmenden Verlustes ihrer Denk- und Handlungsfähigkeiten und der hochgradigen Abhängigkeiten von dem Kontext? Welche Bedeutung hat der institutionelle Kontext Pflegeheim mit seinen verschiedenen Räumen, Abläufen sowie Routinen und Mitarbeiter_innen als Teil dieser Lebenswelt für die Betätigung der Bewohner_innen? Wie kommen Situationen der Betätigung der Bewohner_innen mit Demenz zustande? Welche Perspektiven und Handlungsweisen entwickeln Mitarbeiter_innen in einem Pflegeheim in Bezug zu der Betätigung von Menschen mit Demenz? Wie gehen sie damit um, wenn Personen mit Demenz Betätigung nicht mehr so ausführen, wie es erwartet wird oder wenn sie untätig sind? Was kann überhaupt als Betätigung angesehen werden, und wann ist jemand nicht in eine Betätigung eingebunden? Welchen Blick auf Betätigung müssen Mitarbeiter_innen in einem Pflegeheim entwickeln, um mit Personen mit Demenz zu arbeiten?

Diese Fragen stellt sich die Autorin als forschende Ergotherapeutin, wenn sie über den Alltag von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim nachdenkt. Der Gegenstandsbereich der Ergotherapie ist die menschliche Betätigung. Ergotherapeut_innen gehen davon aus, dass Betätigung eng mit Gesundheit, Wohlbefinden und der Möglichkeit zur Teilhabe eines Menschen verbunden ist (Claudiana, 2007, S. 6). Folglich denken Ergotherapeut_innen, wenn sie über ihre Klient_innen nachdenken, über deren Betätigung nach. In dieser Studie geht es jedoch nicht darum, spezifische (ergotherapeutische) Interventionskonzepte zu erkunden und zu evaluieren, sondern es steht vielmehr Forschung mit einer betätigungsorientierten Perspektive im Vordergrund:

“Those who take an occupational perspective of life and society raise questions and seek answers about occupations. One looks at life and society using an occupational lens to understand what people are doing, or want and need to do to survive, be healthy, and live well as value citizens. Conversely with such a lens, one can look at systems and society to understand how occupations are named, classified, and organized in different economics and sociocultural practices.” (Christiansen & Townsend, 2011, S. 2)

Die Occupational Science als internationale Betätigungswissenschaft befasst sich mit dem zentralen ergotherapeutischen Gegenstandsbereich und fokussiert darauf, Wissen über die menschliche Betätigung zu generieren, welches jedoch nicht ausschließlich für die Ergotherapie, sondern ebenso für andere Handlungsfelder und Akteure bspw. im Gesundheitswesen nutzbar ist (Laliberte Rudman et al., 2008, S. 140f). Mittels einer betätigungsorientierten Perspektive im Sinne der Occupational Science zielt die vorliegende Studie darauf, ein konzeptuelles Verständnis der Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim zu entwickeln.

Die Demenz und deren Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft gehört derzeit zu den vielseitig diskutierten sowie empirisch untersuchten Themen und ist verbunden mit Herausforderungen, die sich nicht nur im Gesundheits- und Sozialsystem (Riedel-Heller, 2014, S. 407), sondern ebenso für die gesamte Gesellschaft stellen (Wißmann & Gronemeyer, 2008, S. 81). 2012 waren 1,5 Millionen Menschen in Deutschland an einer Demenz erkrankt (Bickel, 2014, S. 1). Im Zuge einer steigender Lebenserwartung und insbesondere einer Zunahme der Höchstbetagten (Kuhlmey & Blüher, 2011, S. 188) und vorausgesetzt, dass keine ursächliche Therapie sowie Prävention der Erkrankung entwickelt wird, gehen derzeitige Prognosen für das Jahr 2050 von einem Anstieg auf 3 Millionen Menschen aus, die an einer Demenz erkranken (Bickel, 2014, S. 4). Trotz aktuell nachgewiesener Kohorteneffekte, nach denen später geborene Personen aufgrund von sozialen, Umwelt- und Lebensstilveränderungen ein geringeres Risiko haben, an einer Demenz zu erkranken (Matthews et al., 2013, S. 1409) und damit die Inzidenz prognostisch sinkt, wird die Prävalenz der Demenz im Zuge der demographischen Entwicklung weiter ansteigen (Riedel-Heller, 2014, S. 407).

Im Verlauf der Erkrankung zieht ein Großteil der Betroffenen in ein Pflegeheim um (Weyerer, 2005, S. 7). Insgesamt bedingen veränderte familiäre und soziale Strukturen einen Trend hin zur (teil)stationären Versorgung (Kuhlmey & Blüher, 2011, S. 193). Dies spiegelt sich in einer tendenziell steigenden Anzahl von Pflegeheimen und vollstationär versorgten Bewohner_innen wider (Statistisches Bundesamt, 2015, S. 28f). Die Bewohner_innenstruktur im Pflegeheim hat sich hin zu mehrheitlich schwerstpflegebedürftigen, hochaltrigen Menschen (Backes & Clemens, 2013, S. 361f) mit einem großen Anteil an Bewohner_innen mit Demenz gewandelt (Schneekloth & Törne, 2007, S. 105).

In der Gesellschaft herrschen „angstvolle Vorstellungen über die Krankheit“ Demenz (Deutscher Ethikrat, 2012, S. 18). Ein Leben als pflegebedürftige Person in einem Pflegeheim ist überwiegend negativ bewertet. Folglich kreieren die Möglichkeiten, an einer Demenz zu erkranken und in einem Pflegeheim zu wohnen, ein doppeltes Schreckensszenarium. Kapazitäten, die im Laufe einer Demenz stückweise verloren gehen, wie kognitive Fähigkeiten und abstrakt logisches Denken sowie Selbstständigkeit werden gesellschaftlich als bedeutsame Voraussetzungen für ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben und die Möglichkeit zur (sozialen) Teilhabe angesehen (Wißmann & Gronemeyer, 2008, S. 52f). Der 6. Altenbericht der Bundesregierung zu „Altersbildern in der Gesellschaft“ verdeutlicht, dass eine „Gesellschaft des langen Lebens“ erfordert, sich mit dem Alter(n) und zudem mit möglichen „Grenzsituationen“ des Alters, wie Pflegebedürftigkeit und Demenz, auseinanderzusetzen und soziokulturelle Perspektiven auf das Alter und auf Demenz zu reflektieren (BMFSFJ, 2010, S. 22). Eine ausschließliche Fokussierung auf kognitive Fähigkeiten und auf nützliches, als sinnvoll bewertetes Tun grenzt von einer Demenz betroffene Menschen von sozialer Teilhabe aus (ebd., S. 34f, 502). Dies zeigt ebenso der Deutsche Ethikrat (2012) in seiner Stellungnahme zu „Demenz und Selbstbestimmung“ auf und verdeutlicht die Bedeutung unterschiedlicher Perspektiven auf Demenz:

„Die Auseinandersetzung mit Demenz stellt die Frage nach unserem Menschenbild. Wird der Mensch mit seiner geistigen Leistung gleichgesetzt, muss Demenz als Zerstörung des Menschen erscheinen. Wird der Mensch aber nicht nur als denkendes, sondern auch als empfindendes, emotionales und soziales Wesen verstanden, kann sich der Blick leichter auf die jeweils noch vorhandenen Ressourcen richten.“ (ebd., S. 9)

Bestrebungen, den Blick auf die Ressourcen von Personen mit Demenz zu richten und deren Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe zu erweitern, zeigen sich bspw. in der „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ (BMFSFJ & BMG, 2014), in der Formulierung von nationalen Gesundheitszielen, welche im Ziel 11 einen „inklusiven gesellschaftlichen Ansatz“ für die Gesundheitsversorgung von Personen mit Demenz fordern (BMG, 2012, S. 87), in der Entwicklung neuer Konzepte für die (stationäre) Versorgung (BMFSFJ, 2010, S. 463) sowie der zunehmenden Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen mit Demenz in der Pflegeversicherung (SGB XI) (BMG, 2013).

Die vorliegende Studie zielt darauf, einen Beitrag zu Perspektiven auf Demenz zu leisten, die die Möglichkeiten der (sozialen) Teilhabe von betroffenen Personen erweitern. Wie die eingangs gestellten Fragen einer forschenden Ergotherapeutin aufzeigen, stehen die Betätigung von Personen mit Demenz und insbesondere die Bedingungen der Betätigung im institutionellen Kontext Pflegeheim im Fokus. Dabei interessieren die Handlungsweisen der Mitarbeiter_innen im Pflegeheim als Bestandteil dieses Kontextes. Damit knüpft diese Studie an Bestrebungen der Occupational Science an, Betätigung und deren Bedingungen zu verstehen:

“A comprehensive understanding of occupation and its enablement demands that we take on the responsibility of conducting research framed within an occupational perspective.” (Laliberte Rudman et al., 2005, S. 150)

Zudem richtet sich diese Studie auf spätere Phasen der Demenz, die bislang noch keine ausreichende Beachtung finden (Deutscher Ethikrat, 2012, S. 8). Mittels eines qualitativen Forschungsansatzes im Sinne der konstruktivistischen Grounded-Theory-Methodologie (Charmaz, 2014) umfasst das Ziel nicht nur, die Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim zu untersuchen, sondern zudem eingenommene (und oftmals soziokulturell geteilte) Perspektiven zu reflektieren und aufzuzeigen, auf welche Weise diese Perspektiven zu den (ermöglichenden) Bedingungen für Betätigung von Pflegeheimbewohner_innen beitragen. Es soll ein „neuer Blick“ auf das alltägliche Leben von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim eingenommen, das Wissen zu dem Konzept der Betätigung erweitert und zudem eine Reflexionsfolie für die praktische und konzeptuelle Arbeit von Mitarbeiter_innen im Pflegeheim sowie bestenfalls für gesellschaftliche Reflexionen hergestellt...

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