Stufen zur Pflegekompetenz - From Novice to Expert

Stufen zur Pflegekompetenz - From Novice to Expert

von: Patricia Benner

Hogrefe AG, 2017

ISBN: 9783456957715

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 5344 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Stufen zur Pflegekompetenz - From Novice to Expert



Einleitung


Dieses Buch beruht auf vertieftem Nachdenken über pflegerisches Handeln und auf Gesprächen mit Pflegenden. Im Rahmen unseres Forschungsansatzes zeigten sich fünf Entwicklungsstufen in der Pflegepraxis: Anfänger, fortgeschrittene Anfänger, kompetente Pflegende, erfahrene Pflegende und Pflegeexperten. Diese Stufen werden hier mit den Worten von Pflegenden beschrieben, die einzeln oder in Gruppen befragt und beobachtet wurden. Viele Situationen, in denen Pflegende effektiv zum Wohl des Patienten beitragen konnten, haben wir in dieses Buch aufgenommen. In Beispielen kommt anschaulich zum Ausdruck, wodurch gute Pflege sich auszeichnet. Dabei handelt es sich nicht um abstrakte Ideale, sondern um Realitäten in einem Umfeld, das von Unvollkommenheit und unvorhersehbaren Ereignissen geprägt ist. Pflegende bemühen sich Tag für Tag, diese Ungewissheit zu meistern.

Ein Wort an die Skeptiker


Wer die Beispiele liest, empfindet möglicherweise Zweifel und sich fragt sich, ob das beschriebene Vorgehen in der Pflegepraxis überhaupt möglich ist. Solche Skepsis ist berechtigt, denn die Beispiele beziehen sich auf außergewöhnliche klinische Situationen, in denen Pflegende neue Einsichten gewonnen haben oder einen bedeutsamen Beitrag zum Wohl eines Patienten geleistet haben. Beruht diese Skepsis auf einer grundsätzliche Ernüchterung über die Möglichkeit, als Pflegende einfühlsam und wirkungsvoll zu handeln, – dann bietet dieses Buch dem Zweifelnden eindringliche Gegenbeweise. Ein Hoffnungsstrahl für die Ernüchterten wird sichtbar.

Sinneswahrnehmung als Ursprung ausgezeichneten pflegerischen Könnens


Dieses Buch stellt einige der unerschütterlichen Überzeugungen und Annahmen im Bereich professioneller Pflege in Frage. Wir behaupten, dass Wahrnehmen eine zentrale Rolle für die Qualität pflegerischer Entscheidungen spielt. Häufig bilden vage Ahnungen und allgemeine Einschätzungen den Ausgangspunkt der Pflege. Eine systematische Analyse findet zunächst noch nicht statt. Theoretische Klarheit steht oft nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Prozesses. Pflegeexpertinnen und -experten beschreiben ihre Wahrnehmungen oft mit Worten wie «ich hatte ein ungutes Gefühl », «es kam mir seltsam vor» oder «ich ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte». Solche Worte sind für Lehrpersonen und Praktikerinnen problematisch. Denn es gilt, über solche ersten Eindrücke hinauszugehen und zu belegbaren Schlussfolgerungen zu kommen. Pflegeexpertinnen und -experten wissen, dass mehr als nur vage Vermutungen notwendig sind, um die Verfassung eines Patienten klinisch zu beurteilen. Ihre Erfahrung hat sie jedoch gelehrt, sich bei der Informationssuche auch von unscharfen Empfindungen und Eindrücken leiten zu lassen.

Auf der Suche nach wissenschaftlichen Begründungen übersehen Pflegende, Ärzte und Berater häufig, wie bedeutsam die Wahrnehmungsfähigkeit ist. Wären Pflegende seelenlose Computer oder Monitore, so wären sie auf eindeutige Signale angewiesen, um einen bestimmten Aspekt eines Problems zu erkennen. Glücklicherweise können Menschen bei ihren Entscheidungen auf eine ganzheitliche Gestaltwahrnehmung zurückgreifen. Sie reagieren auf feinste Veränderungen bei einem Patienten, indem sie nach weiteren Informationen suchen und dabei vom Team unterstützt werden. Experten und Expertinnen bleiben niemals bei bloßen Vermutungen stehen. Zugleich lassen sie jedoch auch vage Vermutungen niemals unbeachtet. Sie begreifen sie als Chance, um ein Problem möglichst früh zu erkennen, um nach weiteren Informationen zu suchen, die Klarheit schaffen können.

Entscheidungsspielräume


Es wäre nicht in unserem Sinn, das hier beschriebene Modell des Kompetenzerwerbs als Plädoyer für unsystematisches Lernen und für eine Rückkehr zu frühen Ausbildungsformen zu verstehen. Dies wäre ein Missverständnis. Deshalb möchten wir erwähnen, dass wir ein Modell des Kompetenzerwerbs verwendet haben («Dreyfus-Modell»), das ursprünglich im Rahmen eines Forschungsprojekts für Piloten in Notfallsituationen entstand. Piloten fliegen nicht einfach los, um durch Versuch und Irrtum ein Gefühl für das Flugzeug zu entwickeln. Unter diesen Bedingungen würde ein angehender Pilot nicht einmal seine Grundausbildung überleben. Dasselbe gilt für die Pflege. Pflegerische Tätigkeiten sind mit ebenso gro- ßen Risiken verbunden − sowohl für Patienten als auch für Pflegende. Es bedarf gut geplanter Unterrichtsprogramme, um fähige Pflegefachpersonen auszubilden. Fähigkeiten durch Erfahrung zu erwerben, gelingt sicherer und schneller, wenn eine solide Grundausbildung vorhanden ist.

Die Absicht dieses Buches besteht darin, die Grenzen formaler Regeln aufzuzeigen und auf die Bedeutung der Urteilsfähigkeit der Pflegenden hinzuweisen. Das heißt nicht, über die Prinzipien von Physiologie, Krankenpflege und Medizin hinwegzusehen. Wir plädieren nicht für Chaos und Anarchie. Auch behaupten wir nicht, es gäbe keine Regeln – das wäre so, als erlaubten wir, generell die Regeln der Asepsis außer Acht zu lassen, nur weil unter Notfallbedingungen manchmal auf steriles Arbeiten verzichtet werden muss. In außergewöhnlichen Situationen dürfen allgemeingültige Grundsätze nicht einfach ignoriert werden. Ich befürworte keineswegs, sorglos Regeln zu vernachlässigen, sondern vertrete die Position, dass ein sachverständiges, auf Erfahrung gestütztes Erfassen der Situation auch ohne starres Befolgen von Regeln möglich ist.

Sobald die Situation erfasst ist, wird klar, was vernünftigerweise zu tun ist. Dies entspricht den Erfordernissen der Situation besser als sich starren Grundsätzen und Regeln zu unterwerfen. Es könnten immer neue Regeln erzeugt werden, um eine große Spannbreite von Ausnahmen zu berücksichtigen. Doch ein Experte oder eine Expertin wissen auch in neuen Ausnahmesituationen, was das Richtige ist.

Dieses Buch beschäftigt sich mit riskanten, situationsspezifischen Entscheidungen, über die man normalerweise nicht spricht. Sich hinter Regeln und vorgegebenen Verfahrensweisen zu verstecken, stellt für Menzies (1960) eine Form der Angstabwehr dar. Es handelt sich um eine Bewältigungsstrategie, die zusätzlich belastend ist, weil sie echte Erkenntnis verhindert und dem eigentlichen pflegerischen Handeln im Weg steht.

Die ungeschminkte Realität


Manche Leser hätten es wahrscheinlich bevorzugt, wenn ich nur Beispiele ausgewählt hätte, in denen eine vorbildliche Zusammenarbeit und eine ideale Beziehung zwischen Ärzten und Pflegenden zum Ausdruck kommen. Tatsächlich haben mich Ärzte und leitende Pflegefachpersonen darauf angesprochen. Beispiele, in denen die Beziehung zwischen Ärzten und Pflegenden in einem negativen Licht erscheinen, finden sie problematisch. Auch ich hätte mir gewünscht, bei dieser Untersuchung nur auf vorurteilsfreie, kooperative Beziehungen zwischen Pflegenden und Ärzten zu stoßen. Das wäre jedoch reines Wunschdenken und keine beschreibende Forschung – ein ideales Modell anstelle eines empirisch überprüften. Probleme zwischen den Berufsgruppen sind in dieser Studie eher zu wenig thematisiert, wenn man berdenkt, wie viel Raum dieses Thema in den Interviews einnahm.

In der Realität haben Pflegende und Ärzte gute und schlechte Tage. Ist ärztliche Hilfe in Krisensituationen nicht sofort verfügbar, springen Pflegende viel häufiger ein als offiziell zugegeben wird. Wer sagt, es handle sich hier nicht um Pflege, lässt außer Acht, was Pflegende in ihrem Beruf tatsächlich tun. Eine Leistung gilt als ausgezeichnet, wenn trotz widriger Umstände (z.B. keine kooperative Beziehung oder keine ursprünglich pflegerische Aufgabe) für den Patienten getan wurde, was notwendig war. Hätten wir nur ein Idealbild dargestellt, wäre uns vieles entgangen, was charakteristisch für die heutige Pflegepraxis ist. Nicht zu wissen, wer und was wir jetzt sind, macht es uns schwer, dahin zu gelangen, wo wir in Zukunft sein möchten.

Pflegeperson-Patienten-Beziehung: Nähe und Distanz


Zu Recht mag die Leserin oder der Leser die Repräsentativität dieser Arbeit in Frage stellen. Es war nicht das Ziel, den ganz normalen Alltag zu beschreiben, sondern die Höhepunkte − die Momente, in denen praktisches Wissen erweitert wird. Die Teilnehmenden wurden gebeten, klinische Situationen zu beschreiben, die sich durch etwas Besonderes auszeichneten. Pflegende sind Tag für Tag in engem Kontakt mit Patienten. Den größten Teil der Zeit sind sie sich nicht bewusst, welchen Einfluss ihre Handlungen auf die Patienten haben. An viele Begegnungen erinnern sich Pflegende später nicht mehr. Die Beziehung zwischen Patienten und Pflegenden stellen ein Kaleidoskop aus Nähe- und Distanzmomenten dar. Dabei handelt es sich um einige der dramatischsten, ergreifendsten und auch unscheinbarsten Momente im Leben. Die unscheinbaren Augenblicke wurden hier ausgespart, denn unsere Forschungsstrategie legte das Hauptaugenmerk auf außergewöhnliche klinische Situationen. Da wir herausragende Leistungen darstellen wollten, sind keine negativen Beispiele aufgeführt, in denen Fehler gemacht wurden (Beispiele für das Erkennen von Defiziten enthält der Beitrag von Fenton, S. 248ff.)

Nur ein Anfang


Es beunruhigt mich, dass die 31 beschriebenen Kompetenzen für «absolut» angesehen werden könnten, um daraus ein starres System zu errichten bzw. eine ein für alle Mal festschriebene Kompetenzliste daraus zu machen. Die Absicht dieser Arbeit liegt darin, Pflegende zu motivieren, ihre eigenen Beispiele zu sammeln und sich mit Forschungsfragen zu beschäftigen, die sich aus ihrem eigenen...

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