Irren ist menschlich

Irren ist menschlich

von: Christine Teller, Frank Wendt, Klaus Dörner et al.

Psychiatrie-Verlag, 2009

ISBN: 9783884147191

Sprache: Deutsch

641 Seiten, Download: 2798 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Irren ist menschlich



A Landschaft in Aufruhr (S. 179-180)

Wir befinden uns manisch meist in der Lebensphase Anfang des dritten Lebensjahrzehnts. An der Pubertät und Nach-Pubertät, der zugleich großartigsten und schrecklichsten Zeit des Lebens, sind wir nicht gescheitert: an der Phase, in der man die Grundsatzfrage aufwirft, jeder Gedanke die Welt in Frage stellt, jedes Gefühl die Existenz bedroht, jede Moral radikal ist, wir uns zwischen uns und der Welt aufzuteilen haben. Das haben wir hinter uns – ohne daran schizophren geworden zu sein. Damit sind grundsätzlich die Positionen zwischen uns, den Eltern, Geschwistern und Fremden so weit klar, dass wir uns sicher genug fühlen, in die Welt der Erwachsenen aufzubrechen – privat, beruflich, politisch.

Dort aber sind alle Positionen von Autoritäten besetzt. Wir müssen sie erobern. Das können wir nur mit der Optik, dass die Erwachsenen-Autoritäten kleinkariert, verknöchert und korrupt sind. Wir durchschauen sie. Wir können und wollen die Welt neu schaffen, großzügiger und fröhlicher, lebendiger, demokratischer und partnerschaftlicher, gerechter und lebenswerter, freier, glei - cher und brüderlicher. Das geht nur, indem wir die Autoritäten überzeugen oder besiegen, indem wir zeigen, dass man anders besser leben kann, indem wir vorbildlich alternativ leben, heiterer, menschlicher, natürlicher, auch die Natur achten, notfalls Wut, Zorn und Gewalt da - zu einsetzen. Wenn die Erwachsenen ihr überlegenes Gewaltarsenal dagegen ins Feld führen, umso besser: es ist der beste Beweis unserer moralischen Überlegenheit, auch wenn wir dabei umkommen.

Das ist die Welt der immer wieder anderen Jugendbewegung, des Wandervogels, der antiautoritären Bewegung, der Ostermarschierer, der Hippies, Rocker und Punker, der Grufties, der Hausbesetzer, der ökologischen und der Friedensbewegung, der Skins – die Landschaft der permanenten gewaltlosen und gewaltsamen Provokation, mit der wir uns selbst und die Anderen aufbrechen. Da niemand dabei in sich sicher und alles ein ständiges Experimentieren ist, macht das Aufbrechen Angst.

Doch eher würde man sich die Zunge abbeißen, als diese Angst und diesen (heimlichen) Schmerz des Besserwissens den Eltern und ihren gesellschaftlichen Ersatzautoritäten zu zeigen, während man versucht, sie zu entlarven, lächerlich zu machen, auszutricksen, zum Weinen zu bringen, zu besiegen, um zur Überlegenheit der eigenen Welt und Person zu kommen. Auch hier ist das Spiel nicht nur das des Jugendlichen oder Jung-Erwachsenen, sondern zugleich auch das der Eltern und anderen Autoritäten: auch sie glauben, ihre Angst nicht zeigen zu dürfen, fürchten, Zugeben einer Schwäche führe zum Chaos.

Dabei würde – früh genug – das Zeigen der Angst, ein Signal, dass auch Eltern schwach sind, das Nachgeben beim Wertemonopol freilich bei unerbittlicher Verteidigung der eigenen letzten Werte, die den Erwachsenen bei dieser Gelegenheit meist erst klar werden, ein paar gemeinsam vergossene Tränen aus Verzweiflung darüber, dass man sich nicht mehr verstehen kann – etwas von alledem würde schon genügen, um aus dem gegenseitigen Vernichtungskampf eine Begegnung von Gegnern zu machen, die vom wechselseitigen Respekt lebt. Nur so käme die Begegnung auf ein erwachsenes Niveau des dauerhaften, gegenseitig befruchtenden Austauschs.

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