Pädagogik bei geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten

Pädagogik bei geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten

von: Georg Theunissen

Verlag Julius Klinkhardt, 2005

ISBN: 9783781513556

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1400 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Pädagogik bei geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten



4 Fachdienste für seelische Gesundheit (S. 87-88)

Bevor wir in Kapitel 5 das pädagogische Modell vorstellen möchten wir zunächst den Standort und die Bedeutung unserer Konzeption im System der psychosozialen Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung kurz skizzieren. Nach unserer Auffassung stellt die (Heil-)Pädagogik durch Beratungsangebote und Handlungskonzepte ein Dienstleistungssystem für seelische Gesundheit dar, welches mit anderen Hilfesystemen oder speziellen Fachdiensten (Anmerkung 16) kooperativ vernetzt sein sollte.

Ausgangspunkt unserer Ausführungen ist das Postulat, dass im Falle von Krisen und Verhaltensauffälligkeiten Fachdienste für seelische Gesundheit erreichbar sein sollten. Dabei denken wir insbesondere an sachkundige professionelle Helfer aus dem Lager der Pädagogik, Sozialarbeit, Psychiatrie und Psychologie, die hauptamtlich und/oder auf Honorarbasis den Bedarf an psychosozialer Unterstützung abdecken sollen. Zweckmäßig ist ein mobil und ambulant organisiertes Angebot, zum Beispiel über eine Anlauf- oder Kontaktstelle, an die sich betroffene Menschen mit Behinderungen wie auch Eltern behinderter Kinder, Lehrkräfte oder Mitarbeiter aus integrativen und Behinderteneinrichtungen bei psychosozialen Problemen wenden können (hierzu Wüllenweber & Theunissen 2001; 2004; Theunissen 2003b). Folgende Aufgaben sollten von den Fachdiensten (entsprechend ihrer beruflichen Ausbildung und Qualifikation) wahrgenommen werden:

• Beratung

In Abgrenzung zur Therapie ist Beratung immer dann angezeigt, wenn schwierige (lebensverändernde) Entscheidungen anstehen, ein Bedürfnis nach Handlungsorientierung und -sicherheit besteht oder Antworten auf Lebens- und Sinnfragen gesucht werden. Sie kann sich sowohl an relevante Bezugspersonen (Eltern, Angehörige, Gruppenpersonal, Bekannte) als auch direkt an den jeweiligen Menschen mit geistiger Behinderung wenden. Ein Schwerpunkt ist zweifellos die Elternberatung. Hier geht es häufig um die Bearbeitung psychosozialer Probleme im Zusammenhang mit Loslösungs- oder Autonomieprozessen, um die Überwindung einer „familienzentrierten", infantilisierenden Überbehütung und Ver- sorgung, um das Erkennen „krankmachender" und entwicklungsfördernder Lebensbedingungen, um Beziehungskonflikte bzw. kritische interpersonelle Grundmuster (Erziehungsstile), um verbesserte Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen sowie zum Durchstehen von Krisenzeiten, um die Bewältigung von Schuldgefühlen, Ängsten oder auch Kränkungen durch Umkreispersonen sowie um eine zukunftsorientierte Einstellung zum Erwachsensein des behinderten Angehörigen. Im Unterschied zu früher wird heute ein Beratungskonzept favorisiert, das als „systemische Konsultation" (Voß & Werning) die ratsuchende Person als kompetenten Interaktionspartner ernst nimmt und darin unterstützt, selbstverantwortlich zu eigenen Entscheidungen und Handlungsalternativen zu gelangen (auch Theunissen 1992, 168ff.; Lingg & Theunissen 2000).

Weitere Formen der Beratung erstrecken sich je nach Problemlage oder Beratungswunsch auf eine mittel- oder langfristige (wohn-)gruppenbegleitende Praxis- oder Fachberatung, die mit therapeutischen oder speziellen pädagogischen Angeboten verknüpft sein kann. Ebenso denkbar ist eine kurzfristige Krisenberatung oder eine (interdisziplinäre) Praxisberatung im Rahmen sog. Fallbesprechungen. Darüber hinaus kann Beratung auch in Form von Einzel- oder Teamsupervision durchgeführt werden. Eine Praxisberatung ist gerade in der Arbeit mit verhaltensauffälligen geistig behinderten Menschen sehr zu empfehlen. Wesentliche Aufgaben der (Praxis-)Beratung beziehen sich in der Regel auf Hilfen zum Erkennen und zur (Auf-)Lösung von Problemsituationen, auf die Bewusstmachung eigener normativer Orientierungen und Vorstellungen, die den Umgang mit behinderten Menschen erschweren oder die eigene Konflikte in der Begegnung hervorrufen bzw. verstärken, auf die Erweiterung von Handlungskompetenz und auf das Erkennen von institutionalisierten, kulturellen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen, die die behindertenpädagogische Arbeit beeinträchtigen oder auch befördern können. Wichtig ist es, dass sich der jeweilige Berater bei all diesen Prozessen nicht vereinnahmen lässt, etwa durch eine Verantwortungsübernahme. Dies würde ein schiefgewichtiges Bild der Konsultation befördern, neue Abhängigkeiten oder Zuständigkeitsverschiebungen erzeugen (ausführlich zur Praxisberatung siehe Lingg & Theunissen 2000; auch v. Gemert 1999; Mutzeck 2000; Stahl 2003, 629ff.).

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