Neuro-Palliative Care - Interdisziplinäres Praxishandbuch zur palliativen Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen

Neuro-Palliative Care - Interdisziplinäres Praxishandbuch zur palliativen Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen

von: Christoph Gerhard

Hogrefe AG, 2011

ISBN: 9783456948492

Sprache: Deutsch

358 Seiten, Download: 3638 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Neuro-Palliative Care - Interdisziplinäres Praxishandbuch zur palliativen Versorgung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen



1Palliative Care und Neurologie

1.1 Vorbemerkung

Lässt sich Palliative Care auf neurologische Erkrankungen anwenden? Schauen wir auf die Palliative-Care-Definitionen der WHO oder der Europäischen Palliativgesellschaft (EPCA), so lesen wir, dass es in der Palliative Care um die angemessene Versorgung von Patienten mit fortgeschrittenen und progredienten Erkrankungen geht, die eine begrenzte Lebenserwartung haben (Radbruch et al., 2007). Wie wir sehen, wird in dieser Definition nichts über die Begrenzung der Palliativversorgung, vor allem auf Tumorpatienten, wie wir sie derzeit erleben, ausgesagt. Schauen wir uns nämlich unsere palliativen Strukturen in Deutschland an, so werden in Hospizen und Palliativstationen noch immer zu über 90 % Tumorpatienten versorgt (Lindena et al., 2009). Woran liegt dies? Erfüllen die Gruppen der Nichttumorpatienten, etwa diejenigen mit neurologischen Erkrankungen, nicht die Kriterien der Palliativversorgung, wie sie oben gezeigt wurden? Im Gegenteil: Menschen mit fortschreitender oder fortgeschrittener neurologischer Erkrankung erfüllen diese Kriterien in vollem Umfang! Sie leiden nämlich an einer fortgeschrittenen und progredienten Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung. Wir können uns dies an einer Patientin mit fortgeschrittener multipler Sklerose gut verdeutlichen (Fallbeispiel 1-1).

Wir sehen an Fallbeispiel 1-1, in welchem Umfang die Kriterien der Palliative Care nach den oben genannten Definitionen erfüllt sind. Frau Reiners leidet an einer fortschreitenden und inzwischen fortgeschrittenen Erkrankung. Ihre Lebenserwartung ist deutlich begrenzt, denn sie stirbt bereits mit 65 Jahren. Vordergründig leidet sie an Schmerzen und kann dies schlecht mitteilen. Das heißt, Palliativbetreuung muss hier versuchen, Schmerzen auf anderen als den gewohnten Wegen zu erfassen und dann gezielt zu behandeln. Aber vielleicht hat Frau Reiners noch viele andere störende Symptome, die es trotz erschwerter Kommunikation herauszuarbeiten gilt: Vielleicht leidet sie an Spastik (Muskelsteifigkeit), vielleicht hat sie eine chronische Obstipation (Verstopfung) ... Es ist notwendig, sich in einer suchenden Haltung so mit Frau Reiners zu beschäftigen und sich ihr dabei anzunähern, dass man ihren Weg trotz ihrer kognitiven Andersartigkeit, mit der chronischen Erkrankung und verkürzten Lebenserwartung umzugehen, aufspüren und unterstützen kann. Ebenso ist es notwendig, sich in der sensiblen Annäherung auf die Bedürfnisse und Sorgen der Angehörigen einzulassen. Vielleicht steht eine wichtige Entscheidung an, etwa die Frage, ob Frau Reiners bei einer schweren Lungenentzündung auf der Intensivstation beatmet werden soll oder nicht. Diese Entscheidung kann vermutlich nicht allein von ihr getroffen werden, da sie viele Konsequenzen dieser Entscheidung nicht absehen und wichtige Fragen in diesem Zusammenhang nicht einschätzen kann. Demnach müssen andere stellvertretend für sie mitentscheiden. Für die Beteiligten kann eine ethische Fallbesprechung hilfreich sein, um diese stellvertretende Entscheidung möglichst gut zu treffen.

Fallbeispiel 1-1
Frau Reiners ist 64 Jahre alt und leidet seit 40 Jahren an multipler Sklerose. Zu Beginn der Erkrankung hatte sie vor allem Krankheitsschübe mit Lähmungserscheinungen, Sehoder Koordinationsstörungen. In den letzten 20 Jahren hatte sie keine Schübe mehr, sondern die Ausfälle schritten allmählich fort. Jetzt ist sie erheblich an Armen und Beinen gelähmt, hat Sehstörungen und liegt im Bett oder sitzt im Rollstuhl. Sie leidet an ausgeprägten Gedächtnisund Konzentrationsstörungen. Gespräche mit ihr sind nur noch über einfachste Inhalte möglich. Auf Grund der Lähmungen mit Steifheit leidet sie an Schmerzen am ganzen Körper, die sie aber schlecht mitteilen kann, da sie sich sehr schlecht ausdrücken kann und zeitweise nicht einmal auf das Wort Schmerz kommt. Sie ist außer Stande, Art und Stärke ihrer Schmerzen in Worte zu fassen. Noch schwieriger wird es, wenn man sie nach anderen belastenden Symptomen fragt. Ihre Krankheitssituation wird zusätzlich erschwert durch ständige Begleiterkrankungen, wie Lungenentzündung und Harnwegsinfekt, und ständig besteht die Gefahr des Wundliegens. Mit 65 Jahren, d. h. nur ein Jahr später, verstirbt sie an einem der vielen, aber diesmal deutlich schwereren Harnwegsinfekte mit Sepsis.

Betrachten wir Fallbeispiel 1-1 und die vielen Ansatzpunkte bzw. Notwendigkeiten für Palliativbetreuung, so verwundert es zunächst, warum Palliativbetreuung nicht auch stärker Betroffenen mit neurologischen Erkrankungen zugutekommt. Allerdings bemerken wir an Fallbeispiel 1-1 schon viele «Andersartigkeiten» des neurologischen Palliativpatienten gegenüber dem «klassischen» Palliativpatienten, d. h. dem Tumorpatienten. Frau Reiners ist schon jahrelang von dieser Problematik betroffen. Sie kann, wie schon angeführt, ihre Symptome kaum mitteilen. Trauer und Umgang mit ihrer Krankheit stellen sich bei ihr ganz anders dar.

In diesem ersten Kapitel des Buches werden daher zunächst die Besonderheiten fortgeschritten neurologisch Erkrankter betrachtet, um dann die Grundlagen der Palliative Care anhand ihrer Geschichte zu erörtern. Anschließend wird betrachtet, unter welcher Sichtweise derzeit überwiegend Neurologie betrieben wird. Zum Abschluss wird gezeigt, wie diese unterschiedlichen Herangehensweisen integriert werden können.

In den nächsten Kapiteln wird dann zunächst die Situation des neurologischen Palliativpatienten unter dem Blickwinkel der Autonomie und Lebensqualität betrachtet. In den dann folgenden Kapiteln werden einige typische Symptome, die in der Palliativbehandlung neurologischer Erkrankungen häufig vorkommen, unabhängig von ihren Ursachen besprochen. Es geht dabei zunächst darum, diese Symptome in ihren verschiedenen Dimensionen wahrzunehmen. Anschließend wird die Behandlung des jeweiligen Symptoms in den verschiedenen Dimensionen beschrieben. Häufige Symptome, denen daher ein eigener Abschnitt gewidmet wurde, sind unter anderem: Schmerz, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Verwirrtheit, Lähmungen, Spastik, Rigor, Fatigue, Mundtrockenheit, Flüssigkeit in der Sterbephase, Kachexie, unruhige Beine.

Im Anschluss an diesen «Symptomteil» werden zunächst ethische Fragen und dann einige neurologische Erkrankungen und die Möglichkeiten ihrer Palliativversorgung besprochen. «Modellerkrankungen», die besonders intensiv erforscht werden, sind:
?? die Demenz als Beispiel für den kognitiv veränderten Palliativpatienten
?? die amyotrophe Lateralsklerose als Beispiel für den gelähmten, aber kognitiv nicht eingeschränkten Palliativpatienten.

1.2 Palliativversorgung

Was ist das Besondere am neurologischen Palliativpatienten? Warum werden in Hospizen und auf Palliativstationen auch heute noch zu über 90 % Menschen mit Krebserkrankungen behandelt (Lindena et al., 2009)? Warum haben es Patienten, die an fortgeschrittenen, unheilbaren neurologischen Erkrankungen, wie etwa Parkinson-Krankheit, multipler Sklerose, Demenz oder schweren Schlaganfällen, leiden, meist schwer, eine Palliativbehandlung zu bekommen?

Schon an Fallbeispiel 1-1 konnten wir sehen, dass es bei der Betroffenen wie bei vielen anderen Menschen mit neurologischen Erkrankungen frühzeitig und in erheblichem Umfang zu körperlichen Behinderungen, Lähmungen, Sehund Koordinationsstörungen, kam. Dies geschieht bei Tumorpatienten nicht in dem Ausmaß und vor allem nicht so frühzeitig im Krankheitsverlauf. Diese körperlichen Einschränkungen müssen von den Betroffenen sowie ihren Angehörigen, Pflegenden, Ärzten und Palliativkräften ausgehalten werden.

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