Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik - Lehrbuch für Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft

Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik - Lehrbuch für Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft

von: Manfred Haubrock

Hogrefe AG, 2019

ISBN: 9783456759449

Sprache: Deutsch

566 Seiten, Download: 15726 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik - Lehrbuch für Führungskräfte in der Gesundheitswirtschaft



1.1 Entwicklung der sozialen Sicherung bis 1945

Das deutsche System der sozialen Sicherung, so wie es sich heute darstellt, ist das Ergebnis einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinweg vollzogen hat. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Entstehung und Entwicklung dieses Systems im Wesentlichen von einer in der deutschen Geschichte und Kultur tief verwurzelten sozialpolitischen Grundüberzeugung, dem Prinzip der Selbstverwaltung sowie durch viele verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppen beeinflusst worden ist.

Einige besonders charakteristische Merkmale des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen, wie etwa der auf christlichen Vorstellungen beruhende Leitgedanke der Solidarität gegenüber den Alten und Kranken. Hier stand jedoch nicht nur die Nächstenliebe im Fokus des Handelns, vielmehr spielte auch der Gedanke an den eigenen Seelenfrieden eine wichtige Rolle. Kirchliche Hospitäler dienten im Mittelalter der Krankenversorgung und zeichneten sich dadurch aus, dass sie fremden und nicht ortsansässigen Armen und Kranken Unterkunft und Pflege gewährten. Diese Hospitäler waren in erster Linie Armenpflegehäuser. Als die kirchliche Fürsorge ab Mitte des 15. Jahrhunderts unter anderem als Folge kirchlicher Reformen (Reformation) und den damit verbundenen Schließungen katholischer Häuser an Bedeutung verlor, traten an ihre Stelle zunehmend weltliche Versorgungsinstitutionen. In diesem Kontext spielen die genossenschaftlichen Selbsthilfeeinrichtungen der Gilden, Zünfte und Gesellenbruderschaften, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in den freien Städten stark geprägt haben, eine wesentliche Rolle.

Diese Veränderungsprozesse laufen vor dem Hintergrund einer Wirtschaftsstruktur ab, die – betrachtet man sie nach dem sogenannten Sektorenmodell – in den deutschen Ländern bis zum Jahr 1945 im Wesentlichen durch die Aktivitäten folgender zwei Sektoren geprägt wird:

  • primärer Sektor (Landwirtschaft, Bergbau, Forstwirtschaft und Fischerei)
  • sekundärer Sektor (verarbeitendes Gewerbe, Baugewerbe, Energiewirtschaft).

Die Entwicklung dieser beiden Wirtschaftssektoren ist historisch bedingt. Bis zur industriellen Revolution, die im 18. Jahrhundert zum Beispiel durch die Entwicklung der Dampfmaschine von Newcomen (1705), der „Spinning Jenny“ von Hargreaves (1765), der Baumwollspinnmaschine von Arkwright (1769), des mechanischen Webstuhls von Cartwright (1784), des Puddelverfahrens bei der Eisengewinnung von Cort (1784) und der Baumwollreinigungsmaschine von Whitney (1792) ihren Anfang nahm, dominierte der primäre Sektor.

Der primäre Sektor, in dem bis zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert der Wirtschaftsbereich Landwirtschaft eine dominante Bedeutung spielte, ist durch den Einsatz der beiden volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren Boden und Arbeit geprägt.

Produktionsfaktoren sind materielle und immaterielle Ressourcen, die zur Erzeugung von Sachgütern bzw. zur Bereitstellung von Dienstleistungen notwendig sind. Ihr Einsatz ist somit auch für die Unternehmungen des ersten Wirtschaftssektors die Basis für die Herstellung bzw. Bereitstellung von wirtschaftlichen Gütern. Durch ihre Verwendung wird das Unternehmensziel, zum Beispiel der Anbau von Getreide, realisiert. Im Rahmen dieses sogenannten betrieblichen Wertschöpfungsprozesses werden die Produktionsfaktoren teilweise bzw. ganz „verbraucht“. Wird dieser Ressourcenverbrauch monetär bewertet, entstehen für ein Unternehmen Kosten. Kosten lassen sich folglich aus der ökonomischen Perspektive als zweckbezogene, monetäre Ressourcenverbräuche definieren.

Beim Faktor Boden wird wiederum in Anbau-, Abbau- und Standortboden unterschieden. Unter dem Anbauboden wird zum Beispiel der landwirtschaftlich genutzte Acker verstanden. Diese Art des Bodens ist in der vorindustriellen Phase eine wesentliche Grundlage für die wirtschaftliche Existenz. Bei dem Abbauboden werden die Rohstoffe, die sich in der Erde befinden (z.B. Gas, Kohle, Öl), ökonomisch genutzt. Der Standortboden dient den Unternehmen als Standort für ihre Tätigkeiten; er ist heute unter anderem relevant für Logistikunternehmen oder Gesundheitseinrichtungen, für die eine optimale Anbindung an die Infrastruktur und somit eine gute Erreichbarkeit von Bedeutung ist.

Der Faktor Arbeit wird in der Betriebswirtschaftslehre in die an der Bereitstellung von Dienstleistungen bzw. an der Erstellung von Sachgütern beteiligten Elementefaktoren sowie in die derivativen Faktoren unterteilt. Zu den Elementarfaktoren gehören neben den Betriebsmitteln (z.B. Röntgengerät, Investitionsgüter) und Werkstoffen (z.B. Medikamente, Verbrauchsgüter) auch die ausführenden, erwerbstätigen Menschen. Dieser Teil des Humankapitals wird in der Betriebswirtschaftslehre als sogenannter exekutiver Produktionsfaktor (ausführende Mitarbeiter) bezeichnet. Der so­genannte dispositive Faktor umfasst die Mitarbeiter der Unternehmensführung sowie die Tätigkeiten des Managements. Die Tätigkeiten der Unternehmensführung werden auch derivative Faktoren genannt. Zu den Managementfunktionen gehören die Festlegung von Zielen, die Planung, die Organisation und die Kontrolle.

Diese oben aufgezeigte Differenzierung der Mitarbeiterschaft ist die Grundlage für die Hierarchisierung des Faktors Arbeit. Eine hierarchische Ordnung (Aufbauorganisation, Unternehmensstruktur) besteht aus den Stellen (kleinste Organisationseinheit der ausführenden Arbeit) und den Instanzen (kleinste Organisationseinheit des Managements). Instanzen und Stellen bilden zusammen die Organisationseinheit Abteilung.

Der primäre Sektor ist geprägt durch die Agrargesellschaft. Die meisten Menschen lebten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und in ländlichen Siedlungen. In Deutschland waren zum Beispiel noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa 80% der Menschen direkt landwirtschaftlich tätig (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 1975a). Ein wesentliches unternehmerisches Ziel in der Zeit des Absolutismus, die durch eine ständisch-agrarische Ordnung gekennzeichnet war, bestand für die adligen Grundherren darin, die volle Verfügungsgewalt über die beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Boden zu bekommen. Beim Produktionsfaktor Boden war folglich das Eigentum an der landwirtschaft­lichen Anbaufläche notwendig, um die Ver­fügungsgewalt über diesen Produktionsfaktor zu erhalten. Zu der wirtschaftlichen Elite gehörten zum Beispiel die ostelbischen Gutsherren. Dieser Stand kontrollierte somit die Bodennutzung und lebte zudem von den Abgaben und Dienstleistungen der von ihm abhängigen ­landwirtschaftlichen Mitarbeiterschaft. Die Bestimmung des wirtschaftlichen Einsatzes des Produktionsfaktors Arbeit erfolgte zunächst über die Leibeigenschaft und nach den relevanten Reformen über die Hand- und Spanndienste. Diese Dienste, die im preußischen Einflussbereich auch unter der Bezeichnung Heuerlings- oder Kötterwesen bekannt waren, zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass zwischen dem Dienstherren, also in der Regel einem Landadeligen, und den unselbstständigen Bauern eine wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit bestand. So wurden in den damals geltenden Gesetzen (in einigen Staaten als Heimatgesetz bekannt) Rechte und Pflichten für beide Seiten festgeschrieben. Die Pflicht der Bauern bestand unter anderem darin, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, während es die Pflicht des Lehnsherren war, zum Beispiel die soziale Sicherung der Mitarbeiter zu garantieren. Zu diesen sozialen Pflichten gehörte etwa die Versorgung im Fall einer Krankheit. Das System war zudem auf dem sogenannten Heimatgedanken aufgebaut, das heißt, die Dorfgemeinschaft bildete die soziale und wirtschaftliche Grundlage für die Menschen. Aus diesen ökonomischen Machtstrukturen ergaben sich politische Herrschaftsstrukturen. Die Führungsschichten der vorindustriellen Gesellschaften rekrutierten sich nahezu ausschließlich aus der Schicht des Adels, also aus der sozialen Schicht (Stand) der Eigentümer des Produktionsfaktors Boden. Der Absolutismus war folglich geprägt durch eine Interessengemeinschaft der politischen Führungselite und der wirtschaftlich mächtigen Personen.

Alternativ zu dieser ländlichen Struktur entwickelte sich in den Städten das Bürgertum. Dort spielten die Kaufleute und die Handwerker eine entscheidende Rolle. In den Städten, von denen einige im Laufe der Jahrhunderte bestimmte Privilegien erwerben konnten (z.B. das Marktrecht, das Münzrecht und das Gerichtsrecht), entwickelte sich ein anderes gesellschaftliches Leben. Diese sogenannten freien Städte waren die Wirtschaftszentren einer Region. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Entwicklung war die Erlangung des Marktrechts. Dieses Recht konnte verliehen oder erworben werden. Das Wirtschaftsleben war durch den Tausch zwischen den Produkten aus den ländlichen Gebieten und den städtischen Handwerkserzeugnissen geprägt. Diese Tauschprozesse fanden auf bestimmten Plätzen, den sogenannten Märkten, statt. Der Marktplatz war somit der Ort, an dem gewirtschaftet wurde. Wirtschaften bedeutet, dass Waren angeboten und nachgefragt werden. Verständigen sich der Produzent und der Konsument auf einen Tauschwert, kommt der...

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