Die Pflege psychisch kranker Menschen - Psychoedukation - Recovery. Ein Ratgeber für die Praxis

Die Pflege psychisch kranker Menschen - Psychoedukation - Recovery. Ein Ratgeber für die Praxis

von: Joergen Mattenklotz

Karin Fischer Verlag, 2016

ISBN: 9783842283473

Sprache: Deutsch

312 Seiten, Download: 5834 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Pflege psychisch kranker Menschen - Psychoedukation - Recovery. Ein Ratgeber für die Praxis



1. Einführung


1.1 Psychoedukation in der psychiatrischen Pflege


Gesundheit ist heute ein zentrales Thema aktueller Gesundheitspolitik. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und eines immer deutlicher werdenden Struktur- und Wertewandels in der Gesellschaft gewinnt gesundheitliches Wohlbefinden immer größeren Stellenwert. Diese Entwicklung wurde auch von der Politik erkannt: Es kam zu Gesetzgebungen und zu begleitenden politischen und gesellschaftlichen Diskussionen. Als Beispiel lässt sich etwa die Präventionsgesetzgebung im Gesundheitswesen anführen. Das Gesundheitswesen in Deutschland verändert sich: Der Schwerpunkt verlagert sich zunehmend weg von Krankheit und Behandlung, hin zur Betonung von Gesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention. Welchen Stellenwert nimmt das Thema Pflege in diesem Zusammenhang ein?

Entwicklung im Bereich der Pflege

Die Pflege ist unter den Berufen im Gesundheitswesen mit Abstand die größte Gruppe und hat in Bezug auf Innovation und Verbesserung ein großes Potential. Die mit dem neuen Krankenpflegegesetz verabschiedete erweiterte Berufsbezeichnung »Gesundheits- und Krankenpfleger/in« ist ein Auftrag an die Pflege, sich mit dem Thema Gesundheit und Pflege neu auseinanderzusetzen. Allerdings steht einer echten, nachhaltigen Verknüpfung von Pflege und Gesundheitsförderung eine traditionelle Vorstellung von Pflege als letzter Instanz in der Versorgungskette entgegen. Deutlich wird dies unter anderem in dem Grundsatz »Prävention/Rehabilitation vor Pflege« im Sozialgesetzbuch XI (SGBXI) oder in der Identifizierung von Prävention als der »vierten Säule im Gesundheitswesen« neben kurativer Medizin, Rehabilitation und Pflege.1

Der Bereich Gesundheit und Gesundheitsförderung bietet breite und interessante Möglichkeiten zur Professionalisierung von Pflege. Die Frage lautet: Nimmt die Pflege die Gesundheitsförderung als Herausforderung an? Und: Wie lässt sich dies theoretisch und praktisch umsetzen?

Zur Entstehung des Begriffs Gesundheitsförderung

Die Anfänge der Entwicklung des modernen Gesundheitsbegriffs liegen im 19. Jahrhundert bei der Gesundheitsbewegung Public Health. Im angelsächsischen Raum waren hier vor allem die Universitäten Edinburgh, Schottland oder die Harvard University in den USA von Bedeutung.2 Marc Lalonde, der kanadische Sozial- und Gesundheitsminister, brachte in den siebziger Jahren den Begriff Gesundheitsförderung auf. Sein Konzept konzentrierte sich auf umwelt- und verhaltensbedingte Faktoren sowie auf den Lebensstil, weniger auf medizinische Faktoren.

Bei der weiteren Etablierung des Begriffs Gesundheitsförderung kam der WHO eine Schlüsselrolle zu. Sie griff die Bewegung von Public Health und der Gesundheitserziehung auf und entwickelte den Begriff weg von der Krankheitsprävention hin zum Ziel einer allgemeinen Gesundheit und eines umfassenden Wohlbefindens. In diesem Zusammenhang prägte sie den Sammelbegriff »Gesundheitsförderung«, dessen Leitgedanke auf das Programm »Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000« aus dem Jahr 1978 zurückgeht.3

Etwas präziser wurde es 1986 mit der sogenannten Ottawa-Charta, in welcher der Begriff »Gesundheitsförderung« eng mit den Begriffen »Selbstbestimmung« und »Wohlbefinden« verknüpft wurde. Erstmals wurden hier auch »andere Mitarbeiter im Gesundheitswesen« thematisiert, ohne freilich genauer benannt zu werden.

Wesentlich eindeutiger wurde die Zuweisung von Gesundheitsförderung als Aufgabe der Pflege dann in einer weiteren WHO-Erklärung, nämlich in der Münchener Erklärung Anfang der neunziger Jahre. Kocks fasst die dort formulierten Ziele so zusammen, dass »den Pflegenden und Hebammen bei den gesellschaftlichen Bemühungen, die gewichtige Public-Health-Aufgabe unserer Zeit anzugehen und zugleich die Erbringung von hochwertigen, zugänglichen, effizienten und gegenüber den Bedürfnissen der Menschen aufgeschlossenen Gesundheitsdiensten sicherstellen, eine Schlüsselrolle zufällt, die zudem immer wichtiger ist.«4

Wie bereits erwähnt, wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland damit begonnen, die angesprochenen Schritte umzusetzen. Weiterentwickelt wurde der beschriebene Ansatz vom International Council of Nurses (ICN). Der ICN versteht die Grundsätze von Gesundheitsförderung und Prävention erstmalig als grundlegende Verantwortung von Pflegefachkräften, als ihren Aufgabenbereich. Seine Zielformulierungen sorgten dafür, dass entsprechende Grundlagen schließlich in der Praxis geändert wurden. Die beschriebenen Ziele fanden Eingang unter anderem in neuformulierte Ausbildungsziele in der Kranken- und Altenpflege sowie bei den Hebammen.

In den letzten Jahren wurden auch Modelle zur akademischen Erstausbildung implementiert – etwa an der Evangelischen Fachhochschule in Berlin. Die Fachhochschule Neubrandenburg begann im Wintersemester 2005/2006 mit einem grundständigen dualen Studium zum Berufsabschluss mit gleichzeitiger Bachelor-Qualifikation.

Die Fachhochschulen des Landes Hessen vermitteln schon seit Jahren die Pflegeausbildung in einer erweiterten Form; so kann an der Fachhochschule Frankfurt zusätzlich zum Diplomabschluss auch die Berufszulassung erworben werden. Einen anderen Weg geht die EFH Hannover mit einer Kooperation zu neun Pflegeschulen. Seit dem Sommersemester 2004 können Pflegeschüler/innen in einem fünfjährigen Programm hier den Berufsabschluss und den akademischen Titel »Bachelor of Arts« erwerben.5

Die Vielzahl an Vorschlägen und Modellen ist kaum zu überblicken; eine systematische Vernetzung der Projekte scheint dringend nötig. Durch Betonung der Gesundheitsförderung in den ethischen Grundsätzen der Pflege wird die Bedeutung von Gesundheitsförderung für die Pflege in Deutschland auch vom Berufsverband DBfK6 betont. Nicht zuletzt die aktuelle Fassung des Krankenpflegegesetzes von 2004 mit ihrer Erweiterung der Berufsbezeichnung zum Gesundheits- und Krankenpfleger/in und ihren erweiterten Ausbildungszielen unterstreicht diese dynamische Entwicklung.

Kritisch zu bewerten bleibt, dass das neue Präventionsgesetz von 2005 Pflege noch immer als Gegensatz von Präventation begreift – nicht als Profession und schon gar nicht als Teil der Präventation. Dabei liegt die Bedeutung einer Verbindung von Gesundheitsförderung und Pflege auf der Hand. Verschiedene Autoren reduzieren Pflege längst nicht mehr auf die Bewältigung von Krankheit und Hilfebedürftigkeit, sondern erweitern ihre Aufgaben um die Förderung vorhandener Ressourcen;7 einige gehen sogar so weit, Gesundheitsförderung als grundlegende Aufgabe und integralen Bestandteil professioneller Pflege anzusehen.8 Betrachtet man den Bericht der Enquete-Kommision NRW zum Thema »Situation und Zukunft der Pflege in NRW«, so wird auch hier deutlich, dass Pflege nur in Verbindung mit Gesundheitsförderung zu einer echten ganzheitlichen Pflege werden kann.9

Pflegende als Berufsgruppe, als Aktive in der Praxis, sind gefordert, Information, Beratung und Schulung in Fragen der alltäglichen Versorgung zu übernehmen. Im Alltag ist keine andere Berufsgruppe dafür zuständig und auch keine andere dazu praktisch in der Lage. Eine funktionierende, eine tragende Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten ist eine wichtige Ressource. Pflegende sind bei den Betroffenen präsent; sie kennen die Menschen und ihre Geschichte, sie können den richtigen Zeitpunkt für ein Gespräch erkennen, und sie sprechen die Sprache von Patienten und Angehörigen. Häufig werden Pflegende angesprochen, wenn Patienten die Ausführungen eines Arztes nicht verstanden haben.10 Schaut man sich die verschiedenen Modelle in der Pflege an, gerade in der Psychiatrie, so wird deutlich, dass in vielen Modellen die Stärkung der Selbständigkeit der Patienten (»Verselbstständigung«) längst ein Grundanliege ist.

Henderson spricht in diesem Zusammenhang von Funktionen und Handreichungen, »welche der Kranke selbst ohne Unterstützung vornehmen würde, wenn er über die nötige Kraft, den Willen und das Wissen verfügte«.11 Auch Dorothea Orem integriert diese Aspekte in ihre Selbstpflegetheorie.12

Der wichtigste Grund für die Übernahme edukativer Aufgaben durch die Pflege liegt jedoch im Thema selbst: Es geht um Fragen der alltäglichen Versorgung von körperlichen, seelischen und sozialen Zusammenhängen. Hier beginnt der Ansatz der Psychoedukation.

1.2 Psychoedukation im Kontext psychiatrischer Pflege


Pflegerische Edukation in der Psychiatrie (Psychoedukation) ist nicht einheitlich definiert. Für den deutschsprachigen Raum trifft für mich die Definition der...

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