Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich - Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik

Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich - Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik

von: Martin Schölkopf, Holger Pressel

MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2015

ISBN: 9783954662005

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 6690 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Gesundheitswesen im internationalen Vergleich - Gesundheitssystemvergleich und europäische Gesundheitspolitik



Die Gesundheitssysteme im internationalen Vergleich:
Typologie und Entstehungsprozess


1.1 Eine Typologie der Gesundheitssysteme


Wer im europäischen Ausland Urlaub macht oder in einem anderen Land arbeitet oder studiert und plötzlich medizinische Hilfe benötigt, wird schnell zwei Dinge feststellen: Zum einen verfügen sämtliche Länder West- und Mitteleuropas, aber natürlich auch andere Länder der westlichen Welt, über hoch entwickelte Gesundheitssysteme. Sieht man (bislang) von den USA ab, herrscht zudem längst übereinstimmend die Auffassung, dass es Aufgabe des Staates ist, für die Bevölkerung eine angemessene Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Diese Auffassung hat ihren Niederschlag darin gefunden, dass der öffentlichen Hand im Gesundheitswesen in aller Regel eine dominierende Rolle zukommt. Der Staat plant und finanziert; und häufig erbringt er auch selbst Leistungen.

Wer medizinische Leistungen im Ausland benötigt, wird zum anderen aber auch feststellen, dass bestimmte Charakteristika des jeweiligen Gesundheitssystems vom deutschen Gesundheitswesen abweichen – und dies zum Teil erheblich. So gibt es Länder, in denen die gesamte Krankenhausversorgung in den Händen der Kommunen liegt; die in Deutschland in der öffentlichen Versorgung ebenfalls wichtigen privatwirtschaftlichen und freigemeinnützigen Krankenhäuser wird man dort vergeblich suchen. In einigen Ländern findet – anders als in Deutschland – die ambulante fachärztliche Behandlung ausschließlich im Krankenhaus statt. In manchen Ländern wiederum ist das Sachleistungsprinzip – Patienten erhalten die medizinische Leistung kostenlos, die Leistungserbringer werden von der Krankenkasse bezahlt – unbekannt; die Patienten müssen dort die Leistungen erst einmal selbst finanzieren und bekommen die Kosten anschließend von ihrer Krankenkasse bzw. Krankenversicherung erstattet.

Während also in allen Industriestaaten im Wesentlichen ein gemeinsames Verständnis über die Notwendigkeit eines leistungsfähigen Gesundheitssystems besteht und auch die herausragende Bedeutung des Staates bei der Gewährleistung der Gesundheitsversorgung meist unbestritten ist, lassen sich in der Organisation der Gesundheitsversorgung im Detail erhebliche Unterschiede feststellen. Die Wissenschaft hat bereits früh versucht, diese Differenzen herauszuarbeiten und zu typologisieren. Die erste und zur Einordnung von Gesundheitssystemen immer noch häufig genutzte Typologie ist die Differenzierung in Länder, deren Gesundheitswesen sich am Bismarck- bzw. Beveridgemodell orientieren (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Idealtypische Ordnung von Gesundheitssystemen: Bismarck versus Beveridge

Strukturprinzipien

Bismarck

Beveridge

Grundprinzip

(Sozial-)Versicherungsprinzip

Versorgungsprinzip

Verwaltung

Selbstverwaltung

Staat

Finanzierung

Beiträge

Steuern

Leistungsanspruch

Sachleistung/​Kostenerstattung

Sachleistung

Leistungserbringung

öffentlich/​freigemeinnützig/

privatwirtschaftlich

öffentlich

abgesicherter Personenkreis

ausgewählte Personengruppen

gesamte Bevölkerung

Das Bismarcksche Modell der sozialen Sicherung, in Deutschland von Reichskanzler Otto von Bismarck mit dem Ziel der Befriedung der Arbeiterschaft eingeführt, zielt auf Lebensstandardsicherung sowie Beitrags- und Leistungsgerechtigkeit. Zentrales Grundprinzip ist das Sozialversicherungsprinzip: Sozialrechtliche Ansprüche werden im Sinne einer Versicherung über Beiträge aus dem Lohneinkommen erworben. Die Höhe des Anspruchs bei Einkommensersatzleistungen hängt im Regelfall von den zuvor gezahlten Beiträgen ab. Dieses Prinzip ist insbesondere für die Altersrente und beim Arbeitslosengeld charakteristisch. In der Gesundheitsversorgung greift es nur beim Krankengeld; ansonsten dominiert dort das Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit: Versicherte erhalten die notwendigen medizinischen Leistungen entsprechend ihres Bedarfs, unabhängig von der Höhe der geleisteten Beiträge. Dem Staat kommt im Bismarck-Modell nur eine indirekte Funktion zu: Er gestaltet den rechtlichen Rahmen. Die konkrete Steuerung hingegen erfolgt im Rahmen der Selbstverwaltung durch die Krankenkassen und die Leistungserbringer, insbesondere Ärzte und Krankenhäuser.

Das auf den Überlegungen des britischen Lords Beveridge zurückgehende und nach ihm benannte Beveridge-Modell hingegen sieht eine universelle Basissicherung vor: Im Bedarfsfall soll ein garantiertes Mindesteinkommen bzw. die notwendige medizinische Versorgung für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen (Versorgungsprinzip). Finanziert werden die Leistungen aus Steuern, nicht aus Beiträgen. Der Staat steht auch im Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung: Er plant die Kapazitäten und stellt die medizinische Versorgung in Form von Sachleistungen auch überwiegend selbst zur Verfügung.

Soweit die idealtypische Ordnung – die Wirklichkeit der verschiedenen Gesundheitssysteme wird dadurch leider nur unzureichend erfasst. So lassen sich zwar die meisten Gesundheitssysteme entweder als öffentliche Gesundheitsdienste oder als (Sozial-)Versicherungssysteme einordnen. Doch viele Gesundheitssysteme sind wesentlich komplexer als es die o. g. Typologie abbildet. So gibt es zahlreiche Länder, die über öffentliche Gesundheitsdienste verfügen. Allerdings ist dort zum Teil nicht der Zentralstaat – wie im britischen Vorbild – für die Gesundheitsversorgung zuständig; dies ist vielmehr oft Aufgabe der Kommunen. In einigen Ländern mit Sozialversicherungssystemen wiederum dominieren völlig andere als die o. g., „typischen“ Finanzierungsprinzipien: In den Niederlanden und der Schweiz orientieren sich die Sozialversicherungsbeiträge nicht am Lohn, sondern sind in pauschaler Höhe zu entrichten; im Falle finanzieller Hilfebedürftigkeit hilft der Staat.

Zur Abbildung der Realität ist daher die folgende, alternative Systematisierung der Gesundheitssysteme in sechs Ländergruppen besser geeignet:

  1. Die erste Gruppe umfasst Länder, die ihre Gesundheitsversorgung auf einen nationalen Gesundheitsdienst stützen. Dazu gehören neben Großbritannien – dem „Erfinder“ dieses Systems – Irland und Portugal. Zentrales Kennzeichen dieser Länder ist, dass der öffentliche Gesundheitsdienst dort jeweils vom Zentralstaat direkt gesteuert wird. Die Gesundheitseinrichtungen vor Ort sind damit faktisch Teil der Staatsverwaltung. Griechenland ist in dieser Gruppe insofern ein Sonderfall, als neben dem der gesamten Bevölkerung offen stehenden staatlichen Gesundheitsdienst noch ein Sozialversicherungssystem für den Krankheitsfall existiert.
  2. Eine zweite Gruppe besteht aus Ländern, die ihren öffentlichen Gesundheitsdienst auf regionaler Ebene organisiert haben. Dort ist nicht der Zentralstaat, sondern die Regionen oder Provinzen für die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Das gilt für Italien, Spanien sowie für Australien, Neuseeland und Kanada.
  3. Die dritte Gruppe organisiert ihr Gesundheitswesen ebenfalls über einen öffentlichen Gesundheitsdienst. Allerdings sind dafür die Landkreise, Städte und Gemeinden verantwortlich. Dies trifft auf die vier skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland zu.
  4. Eine vierte Gruppe stützt die Gesundheitsversorgung auf Sozialversicherungssysteme, die der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ähnlich sind, also einkommensbezogene Beiträge verlangen. Neben Deutschland zählen zu dieser Gruppe Frankreich, Belgien, Luxemburg, Österreich und Japan. Die Leistungserbringung erfolgt dort jeweils durch unabhängige kommunale, freigemeinnützige oder privatwirtschaftliche Anbieter.
    Letzteres trifft mit den Niederlanden und der Schweiz auch auf die fünfte Ländergruppe zu. Die dortigen Gesundheitssysteme basieren zwar auf (Sozial-)Versicherungssystemen, die Versicherungsbeiträge werden aber in Form von Kopfpauschalen berechnet.
  5. Die USA schließlich lässt sich in keine der aufgeführten Gruppen einordnen. Hier gibt es weder eine für alle (oder die meisten) Einwohner obligatorische Krankenversicherung noch einen öffentlichen Gesundheitsdienst. Die staatliche Verantwortung beschränkt sich hier vielmehr auf öffentliche Gesundheitsdienste für alte und arme Menschen.
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