Prozessethik - Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse

Prozessethik - Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse

von: Larissa Krainer, Peter Heintel

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2010

ISBN: 9783531922690

Sprache: Deutsch

246 Seiten, Download: 4980 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Prozessethik - Zur Organisation ethischer Entscheidungsprozesse



Das prozessethische Verfahren (S. 207-208)

In diesem Teil sollen konkrete Ausführungen und Anmerkungen zu Fragen der praktischen Organisation von Prozessethik erfolgen. Viele der Überlegungen folgen dabei älteren Ausführungen und greifen diese wieder auf582, wobei hier der Versuch erfolgen soll, sie auf breitere Basis zu stellen und zudem in größeren Kontexten zu denken. Über die theoretischen Prämissen, die für Prozessethik gelten sollen, wurde bereits ausführlich berichtet, sie sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden, wohl aber in Hinblick auf ihre organisatorischen Herausforderungen noch einmal stichwortartig festgehalten werden. Schließlich gilt es ferner zu beschreiben, wie unter Zuhilfenahme des bereits vorgestellten prozessethischen Modells584 ein prozessethisches Entscheidungsverfahren eingeleitet und durchgeführt werden kann.

Vorbemerkungen zu Herausforderungen an Prozessethik


Aus den bisher diskutierten ethischen Herausforderungen vor denen moderne Gesellschaften stehen (Krise der Ethik, Abdanken der autoritären und normgebenden Institutionen, Entdeckung des autonomen Ichs, aber auch dessen Grenzen, Überforderung von Individuen in der Übernahme von Verantwortung für komplexe Sachverhalte, auf die sie keinen vollständigen Einfluss haben etc.) haben wir an verschiedenen Stellen des Buchs die folgenden Ansprüche an Prozessethik entwickelt:

Prozessethik organisiert (kollektive) Selbstreflexion


In der philosophischen Tradition wurde Selbstreflexion primär als individualethische Kategorie konzipiert, wobei in vielen Überlegungen die Frage, wie „die anderen“, bis hin zur Gesellschaft, dabei in das eigene Handeln einbezogen, in ihm berücksichtigt werden können, in den meisten Überlegungen Berücksichtigung gefunden hat. Schon die Vorsokratiker (insbesondere Heraklit und die Pythagoreer) dachten den Menschen weniger als vereinzeltes Individuum, denn als Mitglied einer Gemeinschaft, in der Individuen, über politische wie private Rituale miteinander verbunden sind.

Ähnlich ist dies auch, wenn bei Zenon, Epikur, Platon oder der Stoa die Forderung nach einem geglückten Leben in der Gemeinschaft erhoben und der Begriff des „zoon politicon“ geprägt wird (das nicht anders als ein soziales Wesen gedacht werden kann) und dem abverlangt wird, tugendhaft zu handeln, um das Ideal der Glückseeligkeit zu erreichen. Oder auch bei Aristoteles, der die subjektive Glückseligkeit bereits als unzureichend bezeichnet und über diese hinaus nach sittlichen Tugenden fragt.

Kant fordert, dass die Maxime des eigenen Handelns „jederzeit zum allgemeinen Gesetz“ erhoben werden können sollen und Hegel prägt schließlich den Begriff der Sittlichkeit, der, in Rückgriff auf Aristoteles wiederum politisch gefasst ist und der den Begriff individueller Moralität, den er in der Kant’schen Philosophie kritisiert und zu überwinden versucht, um das Prinzip einer kollektiven Ethik erweitert.588 Auch die spätere Differenzierung von Individualethik und Sozialethik deutet in eine solche Richtung. Der lutherische Theologe von Oettingen, dem die Einführung des Begriffs der Sozialethik zugeschrieben wird, wollte damit betonen, dass Menschen erst in ihrer Einbindung in soziale Kontexte zu sittlichen Wesen werden.

Aus prozessethischer Perspektive reicht das nicht aus und zwar aus zweierlei Grund: Die Wahrnehmung des/der Anderen als Wesen, dessen/deren Rechte, wie ethischen Normen wahrgenommen und weitgehend respektiert werden sollen, gilt freilich als wichtige Prämisse, die soziales Leben überhaupt erst gewährleistet. Prozessethik bleibt aber nicht im Denken und Vermuten über das Wohl der Anderen stehen, sie fragt konkret nach und ist somit auf praktische Konfrontation des über Andere Gedachten mit dem von ihnen selbst Gesagten aus. Möglich, dass es zu Übereinstimmungen führt, es kann aber auch sein, dass das nicht der Fall ist (erster Grund). Prozessethik fragt Betroffene und überprüft deren Meinungen, Haltungen, Normen und Werte somit empirisch.

Der zweite Grund liegt darin, dass für den Fall, dass verschiedene Normen und Wertsetzungen aufeinandertreffen, diese gegenseitig wahrgenommen, wenn möglich verstanden werden und letztlich und im günstigsten Fall miteinander so verhandelt werden sollen, dass sie in gemeinsam akzeptable Maßsetzungen übergeführt werden können. Zielsetzung dabei ist es, von der individuellen Selbstreflexion zu einer kollektiven Selbstreflexion voranschreiten zu können, die, auf breitere Basis gestellt, letztlich auch mehr Sicherheit in ethischen Fragen oder auch eine umfassendere Reflexion in komplexen Themenstellungen ermöglichen soll.

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